Nathalie Imboden spielt das BDM-Mädchen Anna, das in aller Gutmütigkeit an den „Führer“ appelliert. Foto: Pfeiffer

Die Esslinger Landesbühne zeigt nach dreißig Jahren zum zweiten Mal „Die barmherzigen Leutʼ von Martinsried“. Der Intendant Friedrich Schirmer hat dafür gute Argumente.

Esslingen - Schon die Bühne zeigt, was sowohl Stück als auch Inszenierung auszeichnet: absolute Klarheit. Zu sehen ist eine Innenwand mit sieben schlichten Fenstern, davor drei Tische. „Die barmherzigen Leutʼ von Martinsried“, vom 2011 verstorbenen Oliver Storzleicht sarkastisch als „Heimatstück“ bezeichnet, spielt Anfang April 1945 in einer hohenlohischen Bahnhofswirtschaft. Von draußen ist Geschützdonner zu hören, vermutlich von herannahenden Amerikanern, und dazu noch etwas Entsetzliches: verzweifelte Schreie von Menschen. Vier Viehwaggons mit dreihundert KZ-Häftlingen und der SS-Wachmannschaft sind ohne Lok im Bahnhof abgestellt worden. Wie verhalten sich die Dorfbewohner?

Oliver Storzʼ Tragödie hat einen wahren Kern. In den achtziger Jahren stieß der Autor und Filmregisseur auf eine Geschichte aus Eckartshausen im Hohenlohischen, wo die Dorfbewohner den hungernden Nazi-Opfern zunächst zu essen gaben, später aber aus nicht geklärten Gründen jene Waggons auf eine abschüssige Strecke schoben. Aus dem historischen Ereignis hat Storz ein Stück mit fiktiven Personen entwickelt, das 1989 unter dem Intendanten Friedrich Schirmer in Esslingen uraufgeführt wurde. 1995 verarbeitete Storz die Thematik in seinem ARD-Fernsehspiel „Drei Tage im April“. Jetzt wurde das Stück am gleichen Theater neu inszeniert. Warum? Der an die Landesbühne zurückgekehrte Schirmer nennt den Grund: 1989 sei man sich sicher gewesen, dass sich ein solches Geschehnis nicht wiederholen würde. Doch heute könne Derartiges genauso wieder passieren. Der zunehmende Rechtsradikalismus also ist für ihn ein Argument, StorzʼDrama wieder zu zeigen.

Wenn die Toten sprechen

Die schockierenden Schreie der Waggoninsassen lähmen die Menschen im erfundenen Dorf Martinsried. Jeder schiebt die Verantwortung auf andere, der NSDAP-Ortsgruppenleiter auf den Bürgermeister und umgekehrt, der Bahnvorsteher (authentisch wirkend: Dietmar Kwoka) auf übergeordnete Stellen. Die Menschen im Zug sind für ihn auch bloß „KZler, Elemente eben“. Einzig die siebzehnjährige Wirtstochter Anna drängt die anderen Dorfbewohner, den im Zug Eingesperrten zu helfen. In einem anrührend-naiven Monolog redet sie als BDM-Mädel auf ein an der Wirtshauswand hängendes Hitler-Bild ein. Sie versteht nicht, dass Hitler, für sie eigentlich „wie Jesus, Mensch und Gott“, das Schicksal der NS-Opfer in den Waggons zulassen kann. Nathalie Imboden spielt Anna überzeugend als junge, aufrechte, in ihrer Menschlichkeit entschiedene Frau.

Mit großer analytischer Klarheit werden in der prägnanten, mit Dialekt arbeitenden Inszenierung von Marcus Grube abstrakte Begriffe wie Verantwortung, Scham und Menschlichkeit konkretisiert. Es geht in Martinsried ja auch um konkretes Handeln und konkretes Versagen, wobei deutlich wird, wieviel Mut man in einem Terrorsystem braucht, um menschlich zu handeln. Ein besonderer Kunstgriff von Oliver Storz vertieft die Problematik. Einige der Figuren agieren im April 1945 und kommentieren zugleich immer wieder Jahrzehnte später als bereits Verstorbene, als Wesen aus dem Jenseits, kritisch ihr Handeln bei Kriegsende. Die Mechanismen von Erinnern und Verdrängen werden offengelegt. „Friede – das wärʼ das Gegenteil von Vergessen“, sagt der einstige Ortsbauernführer Baisch (Martin Theuer) siebzig Jahre nach dem April 1945.