Wer auf den Spuren der Anthroposophie durch den Bezirk wandelt, kommt an der Zigarette nicht vorbei. Der Zigarettenfabrikant Emil Molt, Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in der Hackstraße, engagierte Rudolf Steiner, um eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter zu gründen – die erste Waldorfschule.
S-Ost - Militante Nichtraucher hätten am Samstag wahrlich keine einfachen zweieinhalb Stunden gehabt. Allerdings wurden sie mit ortshistorischen Erkenntnisgewinnen entschädigt. Denn wer auf den Spuren der Anthroposophie durch den Bezirk wandelt, kommt an der Zigarette nicht vorbei. Wer es allerdings angeführt von Elmar Kurtz und Gerhard Götze tut, kann jenen Wissenszuwachs erwarten – nicht nur zum Thema Anthroposophie.
Die vom Kulturtreff Stuttgart-Ost angebotene Führung beginnt am Zeppelin-Gymnasium im Stöckach. „Vor 150 Jahren war hier noch ziemlich freies Feld“, sagt Gerhard Götze, dem der stadtgeschichtliche Part der Führung obliegt. Er erklärt, dass der Name Stöckach von den Stöcken kommt, die nach dem Roden der Nordseite der Uhlandshöhe, dem früheren Ameisen- beziehungsweise Am Eisenberg, im Boden blieben. Und dass manche der Meinung sind, dass der VfB auf dem einst riesigen Sportplatz hinter dem Zeppelin-Gymnasium seinen Ausgangspunkt hatte. Im Hof hinter dem Gebäude an der Hackstraße 9 bis 11 kommen dann die Zigaretten ins Spiel: Elmar Kurtz, in der Verwaltung der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe tätig, kommt auf das Unternehmen zu sprechen, das in dem fünfstöckigen Gebäude Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Standort hatte: Die Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. Ihr Direktor Emil Molt hatte die Idee zu einer Bildungsstätte für seine Angestellten, ähnlich einer Volkshochschule, wie Kurtz erklärt. „Aber die Arbeiter haben irgendwann gesagt, es wäre ihnen lieber, eine Schule für ihre Kinder zu haben.“
Ein Café wird zur Schule
Beeinflusst von den damals virulenten Konzepten für eine alternative Lebensgestaltung habe Molt Rudolf Steiner wegen einer Schulgründung um Rat gefragt. „Und Steiner hatte einen Entwurf in seiner Schublade.“ Am 7. September 1919 wurde auf der heutigen Uhlandshöhe im ehemaligen Café zur Uhlandshöhe die erste Waldorfschule eröffnet. Knappe 100 Jahre später hat die Schule keine Verbindung mehr zu Zigaretten, obschon laut Kurtz „auch manche Schüler qualmen“ – allerdings keine Waldorf-Astoria-Zigaretten, die Firma wurde 1929 von Reemtsma aufgekauft. Die Waldorf-Astoria-Zigaretten spielen jedoch auch bei der Entstehung des heutigen Verlags Freies Geistesleben und Urachhaus mit Sitz an der Landhausstraße die Hauptrolle.
Wie Kurtz erklärt, hatte Molt während des Ersten Weltkriegs seinen Zigarettenpackungen Faltblättchen mit Geschichten beigelegt. Dieses Geschäft wurde in einen eigenen Verlag ausgelagert. Seinen größten Erfolg hatte der außerhalb von anthroposophischen Kreisen eher unbekannte Verlag 1999. „Er brachte eine kleine Broschüre zur Sonnenfinsternis heraus – mit einer Brille“, erzählt Kurtz. Der Inhaber der Drogeriekette DM, Götz Werner, habe das spitzbekommen und die Broschüre in all seinen Filialen verkauft.
Das Streben nach dem Organischen in der Architektur
Weiter geht es zum Haus der Christengemeinschaft. Sie wurde 1922 von enttäuschten Katholiken und Evangelen gegründet, die Steiner nach einer Alternative gefragt hatten, sagt Kurtz. Aus dem Haus an der Werfmershalde tritt gerade ein Mann und steckt sich eine Zigarette an. Unterdessen geht Kurtz auf die anthroposophische Bauweise des Gebäudes ein, die nach dem Organischen strebe und deshalb rechte Winkel zu vermeiden suche.
Vorbei am einstigen Atelier des Künstlers Daniel Stocker am gleichnamigen Weg geht es in die Schellbergstraße zum Haus des jüdischen Waldorflehrers Ernst Lehrs, vor dem ein Stolperstein an dessen in Auschwitz ermordete Mutter erinnert. Hier hat Karl Schubert während der Nazizeit behinderte Kinder unterrichtet, das Haus ist also der Ursprungsort der Degerlocher Karl-Schubert-Schule.
Bevor die Führung im Hof der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe zu Ende ist, zeigen Elmar Kurtz und Gerhard Götze den gut 20 Teilnehmern das Rudolf-Steiner-Haus in der Straße Zur Uhlandshöhe und das angrenzende Eurythmeum. Links neben dem Rudolf-Steiner-Haus steht das ehemalige Wohnhaus des Stuttgarter Unternehmers José Delmonte, das Steiner entworfen hat. Vor dem Rudolf-Steiner-Haus steht: ein Aschenbecher.