Christine und Jean-Marie Villemin, die Eltern des ermordeten Grégory, im Jahr 1984 in ihrem Wohnzimmer. Foto: dpa/Eric Feferberg

Frankreich sucht seit 35 Jahren den Mörder des kleinen Grégory. Nach dem Urteil eines Pariser Gerichtes muss der Fall nun neu bewertet werden.

Paris - Es ist eine schwärende Wunde, die schmerzhaft aufgerissen wird. Seit über 35 Jahren sucht Frankreich nach dem Mörder eines kleinen Jungen – ohne Erfolg. Die „Affaire Grégory“ erzählt nicht nur vom tragischen Tod eines Kindes. Sie ist auch die Geschichte von Neid, Missgunst und Rache und sie ist ein Beispiel für das klägliche Versagen der Justiz, die Sensationslust einer Gesellschaft und die fragwürdige Arbeit von Journalisten. Weil das Leben die spannendsten Drehbücher schreibt, hat Netflix aus dem Stoff eine kleine TV-Doku gemacht, die seit November ausgestrahlt wird.

Zu viele Fehler in einem komplexen Fall

Nun, nach dem Urteil eines Berufungsgerichtes in Paris am Donnerstag, muss der ungelöste Fall auch juristisch neu bewertet werden. Die damals minderjährige Murielle Bolle hatte in Polizeigewahrsam ausgesagt, ihr Schwager habe den vierjährigen Grégory Villemin getötet – das Gesagte kurz darauf aber widerrufen. Das Gericht hat nun geurteilt, dass ein zentraler Teil ihrer Angaben wegen Ermittlungsfehlern aus den Akten gestrichen werden muss. Die Aussage von Murielle Bolle hatte damals tödliche Folgen. Der Vater des ermordeten Grégory erschießt den verdächtigen Schwager auf offener Straße.

Diese Bluttat lockt schließlich die Sensationslustigen in Scharen nach Lépanges-sur-Vologne, einer kleinen Gemeinde in den Vogesen. Reporter aus dem fernen Paris berichten wie über eine fremde Welt auf einem exotischen Kontinent. Ausgegraben wird, dass die Familie Villemin schon über Jahre bedroht worden war. Nach der Tat erhielten sie einen handgeschriebenen Brief. Der Mord sei ein Racheakt gewesen, hieß es darin.

Eine Mischung aus Neid und Rache

Die Dorfbewohner verraten den Reportern, dass viele in der Gemeinde den Vater des kleinen Grégory um seinen Job als Vorarbeiter in einer Fabrik und den bescheidenen Wohlstand beneidet hätten. Seine Frau Christine wird von Verwandten als arrogant abgetan. Am Ende steht das halbe Dorf unter Mordverdacht, alle müssen Schriftproben abgeben. Doch das Augenmerk der Polizisten liegt schließlich auf der Mutter, die bei der Beerdigung ihres Sohnes vor unzähligen Fernsehkameras schluchzend zusammenbricht. Beweise für ihre Schuld gibt es aber keine.

Wegen der vielen Ermittlungsfehler wird schließlich der zuständige Richter Jean-Michel Lambert von dem Fall abgezogen. Er ist damals Anfang 30 und schlicht überfordert. 33 Jahre danach verfasst Lambert einen Abschiedsbrief, in dem er schreibt, dass er sich nicht zum Sündenbock stempeln lassen wolle – und nimmt sich im Sommer 2017 das Leben.

Jetzt, nach dem Urteil des Berufungsgerichtes in Paris, erklärt der Anwalt von Grégorys erleichterten Eltern: „Die Ermittlungen werden fortgesetzt.“ Sie hoffen noch immer, dass der Mörder ihres Sohnes eines Tages gefunden wird.