Sehen so erfolgreiche Rächer aus? Die Rebellen um Billy Butcher (Karl Urban, links) in „The Boys“ Foto: Amazon Studios/Jasper Savage

Die zweite Staffel der Zukunftsserie „The Boys“ blickt noch tiefer in die Seelen ihrer Figuren und widmet sich vor bunter Action-Kulisse den existenziellen Fragen, die die Herstellung von Übermenschen mit sich bringt.

Stuttgart - Um den Krieg zu gewinnen, nutzten die Nazis die Wachmacher-Droge Pervitin, die heute als Crystal Meth bekannt ist. Aktuell suchen die US-Streitkräfte Mittel, ihre Soldaten leistungsfähiger zu machen, auch mit Hilfe privater Unternehmen. Was das mit sich bringen könnte, davon handelt vor einer üppigen Action-Kulisse die Amazon-Comic-Serienverfilmung „The Boys“.

Die Firma Vought produziert mit einer Wunderdroge Supersöldner, die rasend schnell laufen und fliegen oder durchsichtig sind. Vermarktet werden die „Seven“, eine siebenköpfige Vorzeigegruppe, als kostümierte Superhelden, in denen das Publikum Weltenretter sieht. Hinter dem leuchtenden Image aber lauern Abgründe.

Der Cliffhanger ist schnell abgeräumt

Als Gegenpol fungieren die „Boys“, eine Handvoll Rächer um den kantigen Billy Butcher, dessen Frau der Super-Anführer Homelander – eine smarte Anspielung auf die nach 9/11 eingeführte „Homeland Security“ – einst vergewaltigte und schwängerte. Zu Butchers Helfern gehört der ungelenke Hughie, dessen Freundin der superschnelle A-Train totgerannt hat.

Den Cliffhanger mit Terroristen, die das Wundermittel in die Finger bekommen, räumt die zweite Staffel schnell ab. In den ersten drei Folgen, die Amazon zum Start online veröffentlicht hat (der Rest folgt im Wochentakt) sind die Superwesen mit Wichtigerem beschäftigt, existenziellen Grundfragen etwa: Was macht ein Superhelden-Dasein mit der Seele?

Die Neue: eine Feministin

Das Team um Eric Kripke, der auch Serien wie „Supernatural“ und „Timeless“ erfunden hat, fühlt sich meisterhaft in Beziehungsfragen ein und jongliert lustvoll mit Ambivalenzen. Innerhalb der Seven kämpft jeder für sich, eine „Avengers“-Anlehnung sucht man hier vergebens. Antony Starr verdichtet den Super-Anführer Homelander weiter zum paranoiden Zyniker, der überall Komplotte vermutet und sich erfolglos als Vaterfigur versucht. Für den verblichenen Translucent rückt eine Frau nach: Stormfront (Aya Cash) heißt sie, und ihr Name ist Programm. Sie geriert sich als Feministin, verehrt Pippi Langstrumpf, mokiert sich öffentlich über Vought und verachtet ihre Kollegin Starlight (Erin Moriarty) dafür, dass sie sich in ein sexy Barbie-Kostüm hat stecken lassen.

Diese wiederum kollaboriert mit Hughie, mit dem sie ein Techtelmechtel hatte. Die als antike Göttin auftretende Queen Maeve (Dominique McElligott) versucht derweil, ihr Privatleben vor dem gewalttätigen Homelander zu schützen. „Girls get it done“ heißt die neue Vought-Kampagne – doch selten waren „Mädchen“ uneiniger als diese drei.

Di Rächer müssen sich neu sortieren

A-Train (Jessie T. Usher) kämpft mit einer Sucht, die damals den Unfall verursacht hat, und erweist sich als talentloser Erpresser. Der leicht debile The Deep (Chace Crawford), eine Art Wassermann, der wegen eines sexuellen Übergriffs auf Starlight gefeuert wurde, offenbart in einer Therapie als Grund für seinen Frauenhass die Scham über die Kiemen links und rechts seines Bauchnabels. Er hat einen großen Auftritt, als er auf einem Wal reitend versucht, ein Schnellboot der Rächer abzufangen.

Diese müssen sich zunächst neu sortieren. Der knarzige Neuseeländer Karl Urban (Dr. McCoy in der jüngsten Kinobesatzung des Raumschiffs Enterprise) als Billy Butcher, ein schmerzfreier Cowboy durch und durch, zeigt eine weiche Seite. Hughie (Jack Quaid) wird depressiv, als er erkennt, dass er mit Gutmenschentum gar nichts erreicht. Die mit Superkräften ausgestattete Japanerin Kimiko (Karen Fukuhara) findet unverhofft ihren kleinen Bruder wieder, eine entkommene Laborratte wie sie selbst, und gerät in einen schweren Loyalitätskonflikt.

Immer schwingt böser Witz mit

Die Welt von „The Boys“ ist brutal, da explodiert schon mal ein Kopf, doch auf der Metaebene schwingt immer böser satirischer Witz mit. Die Figuren würden auch in ein Shakespeare-Drama passen oder in eine fein inszenierte komödiantische Serie: Alle sind perfekte Karikaturen und zugleich vielschichtige Charaktere mit sehr menschlichen Zügen, deren Dialogsätze die Macher auf den Punkt modelliert haben. Dazu kommen starke Illusionen: Wie ein Dirigent nimmt Kimikos Bruder ein Seven-Fanartikel-Outlet mit Gesten telekinetisch auseinander. Und wenn Homelander aus einem rasenden Flug butterweich landet und seine zerstörerischen Laseraugen rot zu glimmen beginnen, wirkt daran gar nichts banal.

Er ist praktisch unbesiegbar und beantwortet die entscheidende Frage, wer solche Kreaturen eigentlich noch kontrollieren soll: „Ich kann machen, was ich will“, sagt Homelander in einer Szene, und in einer anderen: „Wir sind Götter.“ Am Ende der ersten Staffel hat er bereits seine prinzipienlose Schöpferin Madelyn Stillwell (eine großartig aufgelegte Elisabeth Shue) umgebracht. Der Mord wurde erfolgreich Billy Butcher in die Schuhe geschoben.

Missgunst, Manipulationen, Intrigen, Fake News: „The Boys“ kommt fast heran an die Realitäten, die seit knapp vier Jahren rund um das Weiße Haus herrschen – aber nur fast.

Comic
Der Autor Garth Ennis und der Zeichner Darick Robertson haben die Comicreihe konzipiert. „The Boys“ erschien von 2006 bis 2012 und umfasst 72 Bände.

Serie
Amazon hat am 4. September die ersten drei von acht Folgen der zweiten Staffel Online gestellt, die weiteren folgen im Wochentakt. „The Boys“ ist derzeit nur für Prime-Kunden abrufbar und im Abo enthalten. Die erste Serienstaffel erschien im Juli 2019, die Dreharbeiten für die dritte beginnen 2021.