Schreiben fürs Fanvolk: Leroy Sané gibt sich nahbar in Aachen Foto: dpa

Ein Jahr nach der desaströsen WM 2018, ein Jahr vor der EM 2020 – die Nationalelf hat im Juni 2019 Halbzeit auf ihrem Weg zum nächsten großen Turnier. Was sich tatsächlich geändert hat, welche Lehren umgesetzt wurden und welche Baustellen es noch immer gibt – wir ziehen eine Bilanz.

Venlo - Die Nationalelf hat Halbzeit. Juni 2019, das ist ein Jahr nach der desaströsen WM 2018 in Russland – und ein Jahr vor der EM 2020, bei der die verjüngte DFB-Elf um den alten Bundestrainer Joachim Löw wieder titelfähig sein will. Zeit also für eine Zwischenbilanz vor dem EM-Qualifikationsspiel an diesem Samstag in Weißrussland (20.45 Uhr/RTL): Was ist wirklich neu im Kosmos Nationalmannschaft nach dem blamablen WM-Auftritt, welche Lehren wurden gezogen – und welche Baustellen gibt es auf dem Weg zum nächsten großen Turnier noch zu bearbeiten?

Das Innenleben: Der Kapitän gab seine Regierungserklärung ab, und was er da so erklärte, überraschte dann schon ein wenig. Es gebe aktuell noch keinen neuen Mannschaftsrat, sagte Manuel Neuer während des Trainingslagers der Nationalelf in Venlo, es gebe lediglich „verschiedene Runden“, in denen „themenbezogen“ Teambelange besprochen würden.

Klar, die Ausbootung langjähriger Führungsspieler wie Mats Hummels, Jérôme Boateng, Sami Khedira oder Thomas Müller schlägt hierarchisch ins Kontor. Die neue Gruppe muss sich erst noch finden und entwickeln, ehe neue Führungsfiguren neben den verbliebenen Platzhirschen Manuel Neuer und Toni Kroos heranwachsen.

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Es ist ein spannender Prozess – auch außerhalb des Platzes. So berichten langjährige nahe Wegbegleiter der DFB-Elf gerne davon, wie es einst beim Essen oder kurzen Ausflügen zuging. Thomas Müller, na klar, war da immer der lauteste am Tisch und schritt auch gerne mal neben seinem Münchner Kompagnon Mats Hummels voran, wenn es in der Freizeit in ein Café ging. Jetzt werden die Dinge neu gemischt. Es gab nicht wenige, die sich früher im Dunstkreis der alten Hasen brav verstecken konnten und nur hinterher laufen mussten.

Jetzt rücken die Jüngeren wie Joshua Kimmich oder Niklas Süle in den Vordergrund. Sie müssen den nächsten Schritt machen, selbst vorangehen und aus dem Schatten treten. „Es macht Spaß, man merkt, die Motivation in der Mannschaft ist hoch“, sagt Manuel Neuer dazu: „Man merkt die neuen Positionskämpfe und spürt, wer Verantwortung übernehmen möchte.“

Das Team ums Team: Abnehmen soll ja generell ganz gesund sein – das gilt im übertragenen Sinne auch für das nähere Umfeld der Nationalelf. Rund um die WM 2018 in Russland war es ja noch so: Die aufgeblähte Gruppe aus Scouts, Spezialisten und Einflüsterern war so groß, dass es einem fast so vorkam, dass Joachim Löw am Ende vor ihnen flüchtete. Informationen über Informationen sollten an den Bundestrainer herangetragen werden, die Sitzungen im Trainingslager in Südtirol und während des Turniers im Quartier von Watutinki waren Marathonveranstaltungen. „Komm‘ mir du nicht auch noch jetzt“ – gut möglich, dass Löw am Ende zumindest so dachte, als der nächste Experte aus dem eigenen Stall ums Eck kam und ihm die siebte Variante bei einem Einwurf erklären wollte. Jetzt sind die Strukturen verschlankt. Weniger ist mehr, kurz und komprimiert ist besser, das ist das Motto, das auch sichtbar gelebt wird. Denn wo vor einem Jahr noch eine ganze Armada an Experten, Betreuern und Helfern um den Trainingsplatz stand, wird sich jetzt mit weniger Leuten aufs Wesentliche konzentriert.

Die Spieltaktik: Die personelle Ausrichtung mit jungen, schnellen und hungrigen Spielern wie Kimmich, Süle oder den Offensiven um Leroy Sané und Serge Gnabry ist das eine – dazu passt auch die veränderte Taktik auf dem Platz. Der eintönige und arrogante Ballbesitzfußball im Zeitlupentempo vom WM-Sommer 2018 ist Geschichte. Joachim Löw hat sich und seinen Spielstil neu erfunden – was auch bitter nötig war. Tempo in der vordersten Front, ständige Rochaden und auch mal eine Kontertaktik, so ähnlich wie schon vor neun Jahren bei der WM 2010 in Südafrika oder dem Confed Cup 2017, als Löw mit seinen jungen Teams ebenfalls den Überfall wagte, das ist der Plan.

Die Außenwirkung: Fannähe, das ist derzeit so etwas wie das Lieblingswort der DFB-Strategen um den Direktor Oliver Bierhoff. Nachdem sich der Tross der Nationalelf noch vor einem Jahr als abgehobenes und unnahbares Raumschiff samt fürchterlichen Marketingslogans (#„Zsmmn“, #„BestNeverRest“) präsentierte, soll die Beziehung zur Basis wieder hergestellt werden. Nach der WM-Blamage 2018 gab es bereits rund um die jeweiligen Länderspiele öffentliche Trainings in Berlin und Wolfsburg sowie Schulbesuche in Leipzig, jetzt übten die deutschen Elitekicker öffentlich vor 20 000 Zuschauern am Aachener Tivoli.

Auf den Eintrittskarten stand in dieser Woche: „DFB hautnah – Trainingsspiel Die Mannschaft“ – was die ganze Problematik ums Thema Nähe recht anschaulich machte. Denn hautnah will sich der Tross um den DFB-Direktor Oliver Bierhoff ja irgendwie ganz unbedingt geben. Andererseits lässt sich Bierhoff gleichzeitig seinen umstrittenen und in den Augen der meisten Kritiker recht weltfremden Marketingslogan weiter nicht nehmen. So nah und doch noch immer so fern: „Die Mannschaft hautnah“ - das ist der DFB-Tross im Juni 2019.

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Schon bei der öffentlichen WM-Analyse von München Ende August 2018 sagte Bierhoff, dass er den Werbeclaim „Die Mannschaft“ zusammen mit den Stakeholdern analysieren wolle. Das ist nun eher nicht die Sprache der Basis, an die sich Bierhoff annähern will. Ein bisschen wirkt der Direktor mit seiner Charme-Offensive wie ein Vegetarier, der gezwungen ist, Fleischwurst anzupreisen. Bierhoff predigt Fannähe. Zuhause fühlt er sich aber eher in den Teppichetagen.

Der allgemeine Auftritt der DFB-Elf fernab der einzelnen Fan-Aktionen ist denn übrigens auch nicht mehr ganz so hautnah – etwa wie in dieser Woche hinter der niederländischen Grenze in Venlo, wo nicht mal die meisten Einheimischen mitbekamen, dass gerade prominente Gäste da sind. Die Einheiten fernab der Fan-Aktionen finden weiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die Spieler werden wie vorher auch abgeschottet – was im Alltag, zumindest in Teilen, durchaus seine Berechtigung hat.

Denn es sollte ja auch drin sein, mal in Ruhe zu trainieren. Damit es 2020 wieder was wird, beim nächsten großen Turnier.