Die heilige Pforte der Lateranskirche wird am 20. November wieder geschlossen. Foto:  

Das von Papst Franziskus 2015 ausgerufene Heilige Jahr der Barmherzigkeit steht vor seinem Abschluss am 20. November. Annette Schavan, seit dem Juli 2014 deutsche Botschafterin am heiligen Stuhl, zieht eine Bilanz.

Rom - Das von Papst Franziskus 2015 ausgerufene Heilige Jahr der Barmherzigkeit steht vor seinem Abschluss am 20. November. Zu den herausragenden Zeichen der Barmherzigkeit nennt die Deutsche Bischofskonferenz den Katholikentag in Leipzig, den Weltjugendtag in Krakau und die Heiligsprechung von Mutter Teresa in Rom. Annette Schavan ist seit dem Juli 2014 deutsche Botschafterin am heiligen Stuhl.

Frau Schavan, ist die Welt in den vergangenen zwölf Monaten barmherziger geworden?
Die große Bereitschaft, vieler Menschen in Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen, ihnen beizustehen, einen Beitrag zu einem würdigen Leben für diese verfolgten Menschen zu leisten, ist jedenfalls ein gutes Zeichen. Auch gegenüber manchem Eindruck, alles werde immer unbarmherziger.
Kann ein einzelner Mann – auch wenn es der Papst ist – diese für viele Menschen gerade so verwirrende Welt mit einem simplen Aufruf zur Barmherzigkeit besser machen?
Er ruft uns damit jedenfalls etwas ins Bewusstsein, was übrigens kein katholisches oder christliches Sondergut ist. Wenn Sie in die Verfassung von Baden-Württemberg schauen, oder in das Schulgesetz, dann steht da: Die Jugend soll zu christlicher Nächstenliebe erzogen werden. Und das ist nicht nur in Baden-Württemberg so. In unserem Grundgesetz, in unseren Landesverfassungen stehen Ziele, von denen wir überzeugt sind, dass es Werte und Grundhaltungen sind, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Papst Franziskus hat in diesem Jahr deshalb auch ein Stück Erinnerungsarbeit geleistet: Es wurde uns in Erinnerung gerufen, worauf wir uns selbst verpflichtet haben.
Diese Rückbesinnung haben wir also gebraucht.
Gerade in Zeiten, in denen die Welt zerbrechlich wirkt, in denen die Zahl der Konflikte eher zunimmt, in denen 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, ist so eine zentrale Botschaft ermutigend. Das ist für mich ein zentraler Punkt am Ende dieses Heiligen Jahres: dass eine so ermutigende Botschaft die Menschen weit über die katholische Kirche hinaus bewegt. Es sind über 20 Millionen Pilger alleine hier in Rom gewesen. Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen spüren: Der Papst hat etwas in den Vordergrund gerückt, was kein katholisches Sondergut ist, sondern Antwort auf die Not und Zerbrechlichkeit der Welt von heute.
Sie sagten es gerade: 20 Millionen Pilger sind nach Rom gekommen. Der Römische Tourismusverband spricht bei den Übernachtungen von rund 14 Millionen - nicht mehr als letztes Jahr. Hat das Heilige Jahr die Menschen überhaupt interessiert?
Um durch eine Heilige Pforte zu gehen, musste in diesem Heiligen Jahr niemand nach Rom kommen. Dass so ein zentrales Ereignis nicht auf Rom konzentriert bleibt, sondern Menschen überall Zugang dazu bekommen sollen, entspricht ja auch dem Verständnis des Papstes von der Bedeutung der Ortskirche. Das war ein wichtiges Zeichen für das Selbstbewusstsein der Ortskirche und für ihren Auftrag: Nicht nur auf das zu schauen, was in Rom ist, sondern die Antwort auf die Not der Zeit auch vor Ort anbieten zu können. Überall auf der Welt gab es die Heiligen Pforten. Wie sich ein spirituelles Ereignis, eine Botschaft der Ermutigung, die Verkündigung von biblischen Impulsen auswirkt, ist nichts, was man so rasch feststellen kann. Man kann es nicht messen. Das ist wie die Diplomatie des Heiligen Stuhls: Das sind lange Linien und langfristig angelegte Dialoge, die über den ersten Blick hinaus die Menschen und übrigens auch die Kultur in der wir leben, stärken und als Kompass wirken können.
Die katholische Kirche in Deutschland hat es nicht leicht – immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus.
Viele Menschen unterscheiden zwischen der Botschaft des Christentums und der Institution, die dafür steht. Das ist nicht neu. Die Wirksamkeit der Botschaft ist nicht allein an der Stärke der Institution festzumachen, sondern an der Überzeugungskraft, mit der wir als Christen leben. Die Volkskirche meiner Jugend, die stark präsent war, ist nicht die Kirche von heute. Das kann man gut oder schlecht finden. Es ist die Realität, in der Christen heute, Gemeinden, Orden, viele geistliche Zentren versuchen, ihren Weg zu gehen.
Sie sind CDU-Mitglied, macht das C heute noch Sinn für eine Volkspartei?
Uneingeschränkt: Ja. Weil es zur politischen Kultur auch gehört, Quellen für seine Überzeugungen zu benennen. Quellen, die kulturprägend für Europa sind, die niemanden ausschließen, aber auch niemanden im Unklaren darüber lassen, wovon wir überzeugt sind. Diese Frage ist heute übrigens weniger umstritten als vor 20 Jahren. Weil in der globalisierten Welt die Frage nach Quellen stärker geworden ist, die über nationale Grenzen hinweg Identität stiften. Das Christentum ist eine universelle Tradition und die stärkere Kraft gegen alles Totalitäre.
Sie sind die erste Frau im Amt des deutschen Botschafters am Heiligen Stuhl. Wie wurden Sie im Vatikan aufgenommen? War es einfacher die Männerklüngel in der CDU zu durchdringen oder die im Vatikan?
Also ich bin ja nicht Kardinälin geworden. Das wäre vermutlich komplizierter. Wir sind derzeit zehn Frauen im diplomatischen Corps. Und wie Sie andeuten: Mein Berufsleben in Kirche und Politik ist so geprägt, dass es mir leicht gefallen ist, mich hier zu Hause zu fühlen. Die katholische Kirche war mir ja nicht fremd, ich kam ja nicht aus einer total anderen Welt. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass für die Zukunft der Kirche die Bedeutung der Orden, der Männer- und Frauenorden, steigen wird. Nehmen Sie die Zentren in Baden-Württemberg, in Sießen in Untermarchtal, in Schwäbisch Gmünd aber auch in Freiburg. Da sind nicht viele Männer und wenige Frauen, da gibt es eine große geistliche Tradition der Ordensfrauen. Die Kirche vor Ort, die Kirche der Gemeinde, wird ganz wesentlich von dem Einsatz der Frauen geprägt. Und wie immer die Diskussionen in der Kirche über Amt und Charisma weitergehen wird - diese Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Der können wir trauen.
Was macht eigentlich eine Botschafterin am Heiligen Stuhl?
Sie hört zu, vermittelt, stellt Verbindungen her zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Heiligen Stuhl. Das Besondere hier ist die Internationalität und die starke internationale Präsenz der katholischen Kirche. Mein Schwerpunkt sind die Beziehungen zwischen Religion und Öffentlichkeit in unseren Gesellschaften.
Können Sie Beispiele nennen?
Ich engagiere mich persönlich zum Beispiel bei den Themen, die mit dem Dialog der Religionen zu tun haben. Hier in der Residenz haben Kardinal Walter Kasper und der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide vor Kurzem über die Rolle der Barmherzigkeit im Christentum und im Islam diskutiert. Oder die Frage: Wie kann das, was wir an der sozialen Marktwirtschaft schätzen, was mit Verantwortung und ökonomischer Ordnung verbunden ist, in einem globalen Kontext verwirklicht werden? Der Papst hat ja vor einigen Wochen ausdrücklich gesagt, wir müssen soziale Marktwirtschaft fördern. Schließlich beteilige ich mich gerade an der Gründung einer Europäischen Akademie der Religionen.
Sie scheinen sich in Rom sehr wohl zu fühlen. Aber so ein Botschafterposten ist zeitlich begrenzt. Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?
Fest steht, dass ich nach Baden-Württemberg zurückkehre, oder genauer gesagt nach Ulm, da fühle ich mich zu Hause, da habe ich viele Jahre politisch gewirkt. Und mit meiner Zeit hier in Rom hat eine neue Lebensphase begonnen, in der nichts einfach so weitergeführt wird, wie es war - ich gehörte glaube ich zu den dienstältesten Ministerinnen in Deutschland - sondern Neues beginnt. Und was das dann in Deutschland sein wird, das wird sich zeigen. Das ist jetzt nicht nur diplomatisch gesprochen, das steht tatsächlich noch nicht fest.
Steht da die Politik noch in ihrem Fokus?
Nein. Alles hat seine Zeit.
A propos Barmherzigkeit: Hätten Sie sich im Februar 2013, als Sie wegen der Plagiatsaffäre um Ihre Doktorarbeit von Ihrem Ministeramt zurückgetreten sind, von Ihren Gegnern mehr Barmherzigkeit gewünscht?
Ich habe ungewöhnlich viel Solidarität und Sympathie erlebt. Und die Sachfrage war keine Frage der Barmherzigkeit.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.heiliges-jahr-im-vatikan-barmherzigkeit-als -mittel-gegen-die-grausamkeit.5b98c430-48f2-4fe4-b986-90edb63076a4