In Deutschland nehmen sexuell übertragbare Infektionen zu. (Symbolbild) Foto: dpa/Christophe Gateau

Sex ist ein Tabu - weniger in der Öffentlichkeit, eher im Privaten. Entsprechend werden auch sexuell übertragbare Infektionen nicht thematisiert. Dabei nimmt ihr Auftreten seit Jahren zu, zur großen Sorge von Fachleuten.

Christine M. hat sich mit 71 noch einmal verliebt. Sehr unerwartet nach einem musikalischen Freizeitworkshop und doch „mit allem Drum und Dran“. Dabei hat die Mutter von zwei erwachsenen Kindern nach der finalen Trennung von ihrem Mann vor 15 Jahren einen solchen zweiten Frühling mit einer Partnerin nicht erwartet. Sexuell aktiv? Das ist sie auch, sagt die Mutter und Großmutter, die gerne anonym bleiben möchte.

„Mit meiner neuen Partnerin, nicht mit wechselnden Partnern und ungeschützt“. Sexuell übertragbare Infektionen? Das spielt für sie in ihrer neuen Liebe keine Rolle. Unter ihren gleich- oder ähnlich alten Freunden sieht das ihrer Erachtens ebenso aus. „Aber auch Freunde und Freundinnen, die ich besser kenne, würde ich nicht nach ‚so was’ fragen“, sagt sie.

Denn, so sexualisiert die Gesellschaft in den Medien oder dem Netz scheint, im Inneren - in Beziehungen, Freundschaften, Familien - wird über das Thema laut Experten geschwiegen. Und über Krankheiten, die durch oder mit dem Sex kommen, erst recht.

Aus einer repräsentativen Befragung von rund 5.000 Menschen in Deutschland in den Jahren 2018 und 2019, der sogenannten GeSiD-Studie, geht hervor, dass das Wissen zu sexuell übertragbaren Infektionen - abgesehen von HIV/Aids - insgesamt nicht gut ist. Besonders schlecht sieht es aus bei älteren heterosexuellen Männern, Menschen mit niedrigem Bildungsstand oder mit Migrationshintergrund. Gut informiert sind Personen mit nicht heterosexueller Orientierung.

16 sexuell übertragbare Infektionen listet die ärztliche Fachgesellschaft auf ihrer Seite. Darunter so sprechende Namen wie Affenpocken, Filzläuse und Genitalwarzen, aber auch bekanntere wie HIV, Hepatitis, Tripper, Chlamydien oder Syphilis, an der wohl schon Arthur Schopenhauer, Ludwig van Beethoven und Oscar Wilde litten.

In Deutschland wird die Syphilis als einzige der genannten Infektionen regelmäßig umfassend erfasst. 2022 gab es hier einen Höchststand. Insgesamt wurden dem Robert Koch-Institut 8.305 Fälle gemeldet. Für 2023 ist aus dem Datensatz bereits ein weiterer Anstieg auf knapp 8.500 zu erwarten; die Mehrzahl bei den 30- bis 39-Jährigen, aber auch in den älteren Altersgruppen steigt die Rate.

Europaweit sowie in anderen westlichen Ländern sieht es ähnlich aus. In den USA etwa wurden 2022 rund 2,5 Millionen Fälle von Syphilis, Gonorrhö, umgangssprachlich auch Tripper, und Chlamydien gemeldet. Gerade bei der Syphilis steigen die Zahlen seit Jahren: Von 2018 bis 2022 gab es nahezu eine Verdopplung der Fälle. Neben akuten Symptomen kann eine unbehandelte Syphilis erhebliche Spätfolgen mit sich bringen.

Für den Präsidenten der Gesellschaft für Sexuell übertragbare Infektionen (STI), Norbert Brockmeyer, besteht an zahlreichen Stellen Handlungsbedarf. „Wir haben ein Problem mit sexuell übertragbaren Infektionen und es wird stetig größer.“ Der Dermatologe und HIV-Experte weist nicht nur auf den weltweiten Anstieg der Fälle hin, sondern auch auf die wachsende Zahl an Antibiotikaresistenzen. Das gefährde die Behandlung einer ganzen Reihe von sexuell übertragbaren Infektionen.

Die ältere Generationen sind angstfreier und sexuell aktiver als früher

Zwar sei die Mehrzahl der zunehmenden Fälle von Syphilis weiter bei jüngeren Männern, die Sex mit Männern hätten, zu verzeichnen, aber der Anstieg bei Älteren nicht zu leugnen. „Viele denken gar nicht mehr daran, dass Sexualität auch im Alter gelebt wird“, sagt Brockmeyer und fügt hinzu: „Mein ältester Patient mit einer Syphilis-Infektion war 85 Jahre alt.“ Einmal an Syphilis erkrankt, kann dies aber viele Jahre unentdeckt bleiben. In Heimen etwa werde Sexualität gänzlich negiert, beklagt Brockmeyer.

Die ältere Generationen sei jedoch angstfreier und sexuell aktiver als früher - auch mit unterschiedlichen Partnerinnen und Partnern. Im allgemeinen spielten die Möglichkeiten, sich im Netz kennenzulernen, eine große Rolle, aber auch Swinger-Clubs oder verfügbare Potenzmittel. Hinzu komme, dass die Sorge vor einer ungewollten Schwangerschaft bei Älteren wegfalle und entsprechend seltener Kondome genutzt würden. Und mit besseren Behandlungsmöglichkeiten etwa von HIV/Aids sei zusätzlich eine gewisse Sorglosigkeit eingekehrt.

Sie heißen nicht nur Parship, sondern auch „Zweisam“ oder „Lebensfreude“: In Anbetracht der alternden Bevölkerung haben Datingportale längst die Kundengruppe in der zweiten Lebenshälfte erkannt. Mit grau meliertem Haar und zahlreichen Lachfalten werben die Portale um die reifere Generation. Und diese nutzt sie. Jeder dritte Internetnutzer zwischen 50 und 64 Jahren gab laut einer Statista-Erhebung im vergangenen Jahr an, Dating-Portale zu nutzen. Bei den Befragten ab 65 Jahren war es jeder Vierte.

„Wir müssen vom Kindesalter an mehr und besser über Sexualität aufklären“, fordert Brockmeyer. Denn bereits bei Kindern zeige sich, dass eine frühe und gute Aufklärung zu mehr Vorsicht und einem bewussteren Umgang mit Sexualität führe - analog und digital. „Wir müssen das Tabu ‚Sexualität’ beenden.“

Hier seien insbesondere Ärzte und werdende Ärzte gefragt. „Die Leute nehmen es unglaublich dankbar an, wenn sie mit jemandem über Sexualität sprechen können und dürfen“, so Brockmeyer. „Es ist etwas ganz Normales“, betont der Mediziner, der jahrelang der Deutschen Aids-Gesellschaft vorstand und für seinen Einsatz das Bundesverdienstkreuz erhielt.

Die Caritas weiß um das Thema Sexualität unter älteren Menschen, die auch in Pflegeeinrichtungen leben. „Dass pflegebedürftige oder alte Menschen keine sexuellen Bedürfnisse mehr haben, stimmt nicht“, sagte die Sprecherin des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland, Anne Langer. Es sei aber weiterhin ein Tabu. Und sexuell übertragbare Infektionen seien gar kein Thema.

„Im Curriculum der Pflegeausbildung spielt Sexualität kaum eine Rolle. Deshalb ist es umso wichtiger, dass das Thema im Pflegealltag vor allem schon mit Auszubildenden und in den Pflegeteams thematisiert wird“, so Langers Wunsch für die Zukunft.