Im Biosphärenzentrum Münsingen kann man auf einer Panoramakarte spazieren gehen – aber nur in Puschen aus Schafwolle von der Schwäbischen Alb. Foto: Cyris

Kein Muh, kein Mäh: Auf dem früheren Truppenübungsplatz Münsingen herrscht himmlische Stille.

„Hen die koi Sonn da drüba?“ Wie ein Rohrspatz schimpft die Frau über die vielen Besucher, die bei schönem Wetter über die Schwäbische Alb herfallen. „Jeda Sonntig isch des gleich“, lamentiert sie im Stil einer schwäbischen Schwertgosch.

Dass es Besucher zum ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen zieht, verwundert nicht. Es ist ein einzigartiges Gelände: Die jahrzehntelange militärische Nutzung verursachte zwar etliche Wunden in der Natur. Auf der anderen Seite konnte sich ein weitgehend unverbautes Gelände erhalten, wie es in Süddeutschland kaum noch anzutreffen ist. Kein Strommast, keine Siedlung, kein flurbereinigter Endlosacker. Im Juni 2006 machte der letzte Soldat auf dem Marsch- und Schießgelände das Licht aus. Seitdem schießt dort nur noch die Natur – und zwar heftig ins Kraut. Seltene Pflanzen- und Tierarten fühlen sich hier wohl.

Vor zwei Jahren adelte die Unesco die Schwäbische Alb als Biosphärengebiet. Der ehemalige Truppenübungsplatz im Münsinger Hardt wurde zum Prunk- und Herzstück der Modellregion. Und seit vor einem Jahr hinter dem einstigen Haupttor der Kaserne, im sogenannten Alten Lager, ein Besucherzentrum eingerichtet wurde, gibt es auch eine Anlaufstelle zur zeitgemäßen Information und interaktiven Besucherbespaßung. Im Gefecht um Touristen heutzutage unverzichtbar. Motto: antreten zum Staunen und Informieren!

Vom Besucherzentrum starten die meisten geführten Touren. Die Guides tragen die Bezeichnung „TrÜP-Guides“ – in Anlehnung an den früheren Truppenübungsplatz. Eine von ihnen ist Rita Goller. Eine waschechte Schwäbin aus dem nahen Lautertal. Im Besucherbus sitzen Touristen aus Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Mit einem schwäbischen Quiz schießt sie zum Start los: „Wer woiß, was Glotzböbbel send?“ (Augen), „Und was sind Preschtling?“ (Erdbeeren), „Und was macht mer aus dena? Gsälz!“ (Marmelade).

Sobald Rita Goller das Mikrofon ausschaltet, etwa am Aussichtsplatz Gänswag mit sagenhaftem Rundumblick, entfaltet sich etwas, das in Deutschland Seltenheitswert besitzt: Stille. Eine Stille ohne jegliches Zivilisationsgeräusch. Kein Muh, kein Mäh. Zumindest wenn nicht gerade ein Schaf vorbeiläuft. Über 20000 Exemplare gibt es auf dem Gelände. Doch das verläuft sich: Das Gebiet macht sich auf 6700 Hektar breit. Zum Vergleich: Der Stuttgarter Flughafen hätte darauf 17-mal Platz. Die Landschaftspflege wird weitgehend von den Schafen übernommen, mit Maschinen wird nicht gemäht. Die Stille erinnert an Eindrücke, wie man sie in Wüsten erhält. Selbst das eigene Schlucken wirkt lauter als sonst. Kaum vorstellbar, dass an manchen Tagen Hunderte Panzer über den Erdboden donnerten.

Apropos Wüste: Das nächste Ziel ist Gruorn. Ein ehemaliges Dorf, von dem nur noch die Kirche, der Friedhof und das ehemalige Schulhaus existieren. Gruorn läuft unter dem Fachbegriff „Wüstung“ – weil es als Siedlung aufgegeben und zerstört wurde. 1938 wurde der Truppenübungsplatz erweitert, die über 600 Bewohner mussten das Dorf räumen. Hie und da ragen überwucherte Grundmauern aus der Steppe empor, ein Küchenboden mit rot-weißen Kacheln ist zu erkennen, eine ehemalige Haustreppe führt ins Nichts. Ein Besuch bei den Überbleibseln stimmt nachdenklich. Immerhin, die Ruhe und Beschaulichkeit sind Balsam für die gestresste Seele.

Wenn es die Witterung zulässt – auf der rauen Alb gilt ja der Spruch: „Immer oin Kittel kälter“ – möchte man sich fast gemütlich ins Gras legen und die Seele baumeln lassen. Doch Vorsicht: Die Wege dürfen nicht verlassen werden. Es wird geschätzt, dass noch bis zu einer halben Million Blindgänger auf dem Terrain liegen.

Der Konflikt zwischen Natur und Nutzung durch den Menschen ist auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz allgegenwärtig. So mag es erstaunen, dass die ehemalige Panzerringstraße als Versuchsstrecke für Lkw und Baufahrzeuge dienen darf. „Darüber wurde heftig diskutiert“, sagt Rita Goller, „immerhin war die Straße schon da, und somit muss an anderer Stelle nichts Neues gebaut werden.“ Die größten Wunden verursachten freilich die Schießübungen mit Panzern und Geschützen. Dort wirkt das Gelände noch immer etwas zerzaust. Einmal im Jahr fährt allerdings wieder ein Panzer herum, ein sogenannter Ökopanzer. Er rumpelt durch Senken, die von Verlandung bedroht sind. So entstanden einst auf dem Truppenübungsplatz Tümpel und kleine Teiche. Durch die rustikale Maßnahme sollen sie erhalten bleiben. Frosch und Kröte freut’s.

Und über die künstlichen Schotterpisten freuen sich andere Spezies, etwa die Wildbiene oder das Braunkehlchen, die es sich neben den Wegen eingerichtet haben. Auf dem Truppenübungsplatz haben seltene Vogelarten wie der Neuntöter, die Heidelerche und der ultraseltene Steinschmätzer überlebt. Angesichts des damaligen Kugelhagels selbst für Ornithologen überraschend. Der Dauerbeschuss ist noch an manchem Stamm zu erkennen, manchmal sogar als glatter Durchschuss. Doch selbst diese Bäume trotzen mit großem Lebenswillen ihren Blessuren. Andere Exemplare hatten mehr Glück und durften nach Herzenslust vor sich hin wuchern. So trifft man überall hölzerne Naturdenkmäler an.

Im Biosphärenzentrum erhält man auch darüber einen Überblick. Hier treffen wir auch die schwäbische Schwertgosch wieder: Die Zitate am Beginn dieses Artikels stammen aus einem Hörspiel über die einstigen Neckereien zwischen Großstädtern und Älblern.

Münsingen

Anreise
Von Stuttgart auf der B27 Richtung Tübingen, B312 Richtung Metzingen, B28 Richtung Ulm, in Bad Urach der Ausschilderung nach Münsingen folgen.

Ehem. Truppenübungsplatz Münsingen
Das Gelände ist ganzjährig geöffnet, das 45 Kilometer lange Wegenetz steht Wanderern, Spaziergängern, Radfahrern und Inlineskatern offen. Hunde müssen an die (kurze!) Leine. Der Eintritt ist frei. Geführte Führungen unter www.muensingen.de und www.biosphaerengebiet-alb.de

Biosphärenzentrum Schwäbische Alb
Im Münsinger Ortsteil Auingen, Von der Osten Stra-ße 4, 6 (Altes Lager), Telefon 07381/93293831, Eintritt: vier Euro, ermäßigt zwei Euro. Öffnungszeiten: November bis März 11–17 Uhr, außer dienstags.

Übernachten
Hotel Herrmann in Münsingen. DZ ab 60 Euro pro Person, www.hotelherrmann.de
Hotel Hirsch in Indelhausen im Lautertal. Spezialitäten von der Albschnecke.
DZ ab 40 Euro pro Person, www.hirsch-indelhausen.de

Was Sie tun und lassen sollten
Auf jeden Fall regionale Spezialitäten probieren: Alblinsen, Albkäse, Albschnecken, Dinkelgebäck.

Auf keinen Fall den alten Kalauer „Was sind die drei schlimmsten Krankheiten? Lepra, Cholera, von d’r Alb ra!“ zitieren. Die Älbler haben das Herz am rechten Fleck und können sehr gesellig sein.