Eines von mehr als 13 000 Tagebüchern, die in Emmendingen eingesehen werden können. Foto: Gerhard Seitz/DTA

Im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen werden Aufzeichnungen, Erinnerungen und private Briefwechsel gesammelt und erschlossen.

Emmendingen - Wer mit dem Zug ankommt, bemerkt am Emmendinger Bahnhof ein riesiges Graffito in tintenblauer Farbigkeit, das zentral eine mit Füller schreibende junge Frau zeigt. Umgeben ist sie von Figuren und Gebäuden mit Bezug auf die „Stadt der Tagebücher“, wie die Überschrift erläutert. Emmendingen hatte das auffällige Mauerbild im vergangenen Jahr bei dem Freiburger Künstler Tom Brane in Auftrag gegeben. Mit dem Titel kann sich die Kreisstadt wahrlich schmücken, denn das Deutsche Tagebucharchiv, kurz DTA, ist hierzulande einzigartig.

Die Gründung des Tagebucharchivs entstammt einer privaten Initiative: Die auch als Stadträtin engagierte Wahl-Emmendingerin Frauke von Troschke hatte die Idee und startete 1998 mit fünf Tagebüchern in ihrem Wohnzimmer, binnen zwei Jahren waren es 500. Knapp zwanzig Jahre später betreut ein gemeinnütziger Verein mit seinen neunzig ehrenamtlichen Mitarbeitern beinahe 18 000 Dokumente von fast 4000 Personen, davon über 13 000 Tagebücher, außerdem Erinnerungen und Briefsammlungen mit über 140 000 Einzelbriefen. Untergebracht sind die Archivkästen und die Präsenzbibliothek mit Transkriptionen zum Großteil in der zweiten Etage des Alten Rathauses, einiges ist mittlerweile ins benachbarte Landratsamt ausgelagert. Ein Findbuch reicht für diese Menge natürlich längst nicht mehr, erschlossen werden die Dokumente mittels einer Datenbank, deren Entwicklung von der Bundeskulturstiftung unterstützt wurde. Inzwischen wäre eine neue Software nötig und eine Dauerförderung wünschenswert, denn es kommen von Jahr zu Jahr mehr Einsendungen und Anfragen.

Kladden, Journale, Speichersticks

Auf die berechtigte Frage nach dem öffentlichen Interesse an privaten Notaten reicht eigentlich ein einziger Name als Antwort: Anne Frank. Was wäre der Welt entgangen, hätte die 13-Jährige nicht im Juni 1942 begonnen, ein rot kariertes Poesiealbum mit ihren Aufzeichnungen zu füllen: „Ich hoffe, Du wirst mir eine große Stütze sein“, lautet der erste Satz in diesem berühmtesten Tagebuch der Literaturgeschichte, das uns Auskunft über das Alltagsleben, das Denken und das Fühlen eines jungen Mädchens, über die politische Situation der Juden im von den Nazis besetzten Amsterdam gibt.

So unterschiedlich Menschen sind, so verschieden sind die jeweiligen Beweggründe, ein Tagebuch zu schreiben, so anders sind die Inhalte und auch ihre Formen. Das älteste Objekt des Bestands ist ein Almanach des Jahres 1760, den der Pfarrer Gottlieb Christoph Bohnenberger aus Neuenbürg für seine Buchhaltung und kurze Notizen verwandte. Heute kommen Tagebücher auch schon mal als Speicherstick. Das Gros allerdings sind gebundene Bücher oder schlichte Hefte – schwarze Kladden aus den Weltkriegen – in winzigen oder albumgroßen Formaten, die besser oder schlechter lesbar von Hand vollgeschrieben wurden. Teilweise sind Fotos eingeklebt, Zeichnungen oder Karikaturen dazwischen gestreut. Das liegt bei Reisejournalen nahe oder bei Erinnerungen, die für fremde Adressaten gedacht sind, Kriegstagebücher etwa, die sich an eine Ehefrau zu Hause richten. Übrigens stammen 55 Prozent der Aufzeichnungen von Männern, darunter befinden sich eine Menge Feldpostbriefe und -karten.

„Jeder hat das Recht, gehört zu werden!“, äußerte der Gründer des italienischen Tagebucharchivs, Saverio Tutino, einmal, und diese Maxime gilt gleichermaßen in Emmendingen: Nicht prominente Verfasser sind gefragt, sondern allein der autobiografische Charakter zählt, zudem darf der Text noch nicht veröffentlicht sein.

Eine Kulturgeschichte der Partnersuche

Welche Bedeutung innerhalb der Geschichtswissenschaft, in der Alltags- und Mentalitätsgeschichte die Dokumente eines derartigen Archivs besitzen, zeigen die seit 2006 alljährlich herausgegebenen Broschüren mit dem Titel „Lebensspuren“. Darin werden zum einen Neueingänge verzeichnet und kurz charakterisiert, aber auch die Nutzung für wissenschaftliche Recherchen sowie Museumsprojekte und Publikationen aufgelistet. Neben zahlreichen Artikeln zu den beiden Weltkriegen und Schülerreferaten finden sich Forschungsthemen wie Jugendsprache, die Anwesenheit von Vätern bei der Geburt oder der Umgang mit Behinderungen in der frühen Bundesrepublik.

Bei manchem Tagebuch scheint eine publizistische Verwertung geradezu auf der Hand zu liegen: Wenn eine junge Frau in den 1950er Jahren als Zugsekretärin im Schreibabteil der Fernschnellzüge die Diktierpausen für private Aufzeichnungen nutzt – ihre 59 Tagebuchhefte von 1944 bis 1979 liegen seit Kurzem im Deutschen Tagebucharchiv.

Solche Entdeckungen kann man im vierteljährlich verschickten Neuigkeitenbrief oder auf der sorgsam gepflegten Website machen. Dort findet sich eine Auswahl von Veröffentlichungen wie etwa die 2014 erschienene „Verborgene Chronik 1914“ von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, eine Collage aus Tagebuch- und Briefzitaten, der in diesem Herbst bei Galiani ein zweiter Band folgen wird, oder das kürzlich präsentierte Buch „Mr. Right und Lady Perfect – Von alten Jungfern, neuen Singles und der großen Liebe“, mit dem die Kulturwissenschaftlein Annegret Braun bei Lambert Schneider eine Kulturgeschichte der Partnersuche vorlegt.

Spender, Sponsoren, Unterstützer

Anlaufstelle für alle Belange ist die Geschäftsstelle, die – man mag es kaum glauben – nur aus dem Leiter Gerhard Seitz und der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Jutta Jäger-Schenk besteht. Das fünfköpfige Vorstandsteam unter dem Vorsitz von Marlene Kayen, die vor einem Jahr Frauke von Troschke abgelöst hat, arbeitet selbstverständlich ehrenamtlich, ebenso wie die rund neunzig Mitarbeitenden, die die Dokumente archivieren, erschließen und damit den Zugang überhaupt erst ermöglichen. Ohne fachkundige Transkription wären die meisten Nutzer wohl aufgeschmissen – wer kann heute noch Kurrentschrift oder gar Steno lesen!

Marlene Kayens größte und sehr berechtigte Sorge gilt der Frage, wie dies alles in Zukunft ohne Dauerförderung bewältigt werden soll, denn bisher finanziert sich das Deutsche Tagebucharchiv durch die Beiträge der immerhin 630 Mitglieder, durch Spenden, Sponsoren und die Unterstützung der Stadt Emmendingen, deren Oberbürgermeister als Schirmherr fungiert. Die Räumlichkeiten im Alten Rathaus sind nicht erweiterbar. Immerhin konnte 2014 im ersten Stock ein kleines Museum eingerichtet werden, in dem nach einer Ausstellung zum Ersten Weltkrieg „Zwischen Hurra und Hölle“ derzeit eine über „200 Jahre Familie in Tagebüchern und Briefen“ gezeigt wird, die tatsächlich „bemerkenswerte und anschauliche Innenansichten“ liefert. Hier zeigt sich,  wie wichtig zusätzliche „Ego-Dokumente“, etwa Fotos, und ergänzende Informationen zur Provenienz sind – dieses Material wird von den einliefernden Personen, meist den Nachkommen, erbeten. Sie entscheiden auch über die Frage der Anonymität und die weitere Nutzung.

Interessierte haben bei dem Ausstellungsbesuch die Möglichkeit, in einer Leseecke Auszüge aus Tagebüchern kennenzulernen oder mit einer Führung hinter die Kulissen der Einrichtung zu schauen. Immer im November findet unter dem Titel „Zeitreise“ ein Leseabend zu einem ausgewählten Thema statt, an dem der Öffentlichkeit bisher Textauszüge über „Das Glück in der Ferne? Leben in anderen Kulturen“ oder „Familienbande“ oder „20 Jahre Mauerfall“ dargeboten wurden, die danach in Publikationen nachgelesen werden können. Eine Sammlung von Selbstzeugnissen deutscher, französischer und italienischer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg kam durch die Kooperation mit den französischen und italienischen Tagebucharchiven zustande und wurde 2014 bei den Autobiografie-Tagen in Emmendingen und Straßburg vorgestellt. Im Jahr darauf gründeten dem Deutschen Tagebucharchiv vergleichbare Einrichtungen aus Italien, Frankreich, Ungarn, Großbritannien, Österreich und den Niederlanden ein Netzwerk zum Austausch und zu gemeinsamen Projekten: die European Diary Archives and Collections (EDAC).

Es sind erstaunliche Dimensionen, die sich bei dem scheinbar so privaten Thema des Tagebuchschreibens auftun können – mit Marlene Kayens Worten: Die Inhalte berühren, die Vergangenheit wird lebendig, der Horizont weitet sich.