Das historische Bild zeigt die Mitglieder der württembergischen Sanitätskolonne zu Beginn des 20. Jahrhunderts Foto: DRK

An diesem Donnerstag feiert das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in Stuttgart seinen 150. Geburtstag. Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Hier fand nicht nur die Bewegung in Deutschland ihren Anfang, sondern auch deren Gründer Henry Dunant Hilfe in düsterer Zeit.

Stuttgart - Bunt gefärbte Blätter bedecken den Boden in der kleinen Grünanalage an der Stuttgarter Hasenbergsteige. Mittendrin: fünf Würfel aus italienischem Marmor. Vier stapeln sich aufeinander, ein fünfter liegt etwas abseits. Darauf ein Zitat: „Oh wie schön ist dieses Stuttgart. Ich liebe das Schwabenland.“

 

Die Worte stammen von Henry Dunant. Dem Schweizer Gründer der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist das Denkmal, das zusammengesetzt ein Kreuz ergeben würde, gewidmet. Es steht vor seinem ehemaligen Wohnort, dem im Krieg zerstörten Haus mit der Nummer 10. „Wohltäter der Menschheit“ wird Dunant dort genannt. Seine Idee hat sich zur größten Hilfsorganisation der Welt entwickelt. Die Stadt Stuttgart und der Württembergische Sanitätsverein spielen dabei eine bedeutende Rolle.

Dass es so weit kam, liegt an einem der grausigsten Ereignisse, die Europa je gesehen hat. In Solferino unweit des Gardasees treffen im Juni 1859 die Truppen Österreichs auf die feindlichen Verbündeten Frankreich und Sardinien. Ein beispielloses Gemetzel um die Vorherrschaft in Norditalien beginnt. Am Ende liegen 38 000 Tote und Verwundete auf dem Schlachtfeld. Zehntausende erkranken in den Tagen danach. Niemand leistet Hilfe. Der Kaufmann Dunant, der auf einer Reise dort vorbeikommt, ist entsetzt. Spontan richtet er mit Freiwilligen aus der Bevölkerung ein Behelfshospital ein.

In Stuttgart wird der Württembergische Sanitätsverein gegründet

Die Idee, im Krieg neutral allen Verwundeten zu helfen, lässt Dunant nicht mehr los. Er schreibt seine Eindrücke von der Schlacht und seine Vorschläge nieder, verteilt das Buch in ganz Europa und wirbt für die Gründung von unabhängigen Hilfsorganisationen in allen Ländern. Dabei kommt er auch nach Stuttgart. Dort stößt er auf offene Ohren. Dekan Ernst Rudolf Wagner übersetzt Dunants Buch ins Deutsche. Pfarrer Christoph Ulrich Hahn , bereits Begründer der Evangelischen Gesellschaft, bekommt vom König den Auftrag, für Württemberg an der Gründungskonferenz des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Genf teilzunehmen.

Als Hahn zurückkommt, schafft er Fakten. Am 12. November 1863 gründet er in Stuttgart gemeinsam mit Gleichgesinnten den Württembergischen Sanitätsverein. Er gilt heute als erste nationale Rotkreuzgesellschaft der Geschichte. Deshalb feiert das Rote Kreuz nun nicht nur international, sondern auch in Deutschland und Stuttgart seinen 150. Geburtstag. Der Verein widmet sich von Anfang an den Verwundeten im Krieg ebenso wie den Opfern bei Katastrophen.

In den Jahren nach der Gründung bekommt der Verein sofort reichlich zu tun. „Die Helfer waren sehr schnell gefordert“, weiß Christian Schad. Das Vorstandsmitglied des DRK-Kreisverbands Stuttgart, der sich später aus dem Sanitätsverein entwickelt hat, zählt allein in den ersten Jahren drei Kriege auf. Die Sanitätskolonne musste fast pausenlos auf die Schlachtfelder Europas ausrücken. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kamen die Verletzten massenhaft am Stuttgarter Hauptbahnhof zur Behandlung und Weiterverteilung an.

Dunant wird mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet

1864 unterzeichnet Christoph Ulrich Hahn für das Königreich Württemberg die Genfer Konvention. „Er und Dunant waren Geistesverwandte“, sagt Schad, heute Konventionsbeauftragter des Kreisverbands. Das kommt Dunant wenige Jahre später noch sehr zugute. Denn 1876 folgt die zweite Episode, die Stuttgart in der Geschichte des Roten Kreuzes in den Blickpunkt rückt.

Dunant ist zu diesem Zeitpunkt am Ende. Als Kaufmann hat er eine Pleite erster Klasse hingelegt. Beim Rotkreuz-Komitee in Genf fällt der Gründer dadurch in Ungnade. Er wird ausgeschlossen. Mittel- und obdachlos erinnert er sich an seine Freunde im Schwäbischen. Als er in Stuttgart ankommt, nimmt ihn Dekan Wagner in seinem Haus in der Hasenbergsteige auf. Über zehn Jahre wird es der Ankerpunkt in Dunants Leben bleiben.

Bei einem Spaziergang läuft Dunant dem Studenten und späteren Gymnasialprofessor Rudolf Müller über den Weg. „Ich war sehr erstaunt, den Gründer des Roten Kreuzes hier anzutreffen“, berichtet der danach. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, werden enge Freunde. Auch als Dunant später nach Heiden in der Schweiz übersiedelt, ändert sich daran nichts. Müller schreibt an einer Art Biografie Dunants. 1897 wird „Die Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention“ veröffentlicht. Ein Originalexemplar davon befindet sich noch heute im Besitz des DRK Stuttgart. Durch das Buch rückt der zuletzt gesellschaftlich völlig in Vergessenheit geratene Dunant wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Vier Jahre später wird er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 1910 stirbt er in der Schweiz im Alter von 82 Jahren und wird in Zürich beigesetzt.

Aus Dunants Ideen hat sich inzwischen eine den Globus umspannende humanitäre Organisation entwickelt. Weltweit finden sich unter dem Dach des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds 188 Gesellschaften mit 120 Millionen Mitgliedern. Das DRK ist mit 3,5 Millionen Mitgliedern die drittgrößte Gesellschaft. Die Ortsvereine mit ihren zahlreichen Helfern sind nicht mehr wegzudenken. Allein in Baden-Württemberg sind 10 285 Festangestellte und 61 700 Ehrenamtliche aktiv im Einsatz. Dazu kommen 644 000 Fördermitglieder.

Die Arbeit wird den Helfern künftig nicht ausgehen

„Dunant hat hier Hilfe erfahren, als er, von seinen Gläubigern verfolgt, als Clochard nach Stuttgart kam. Und Müller hat ihn mit seinem Buch rehabilitiert“, sagt Schad. Dadurch habe Dunant letztlich auch den Friedensnobelpreis erhalten. Deshalb und wegen des Pioniergeists des Württembergischen Sanitätsvereins sei klar, dass die zentrale deutsche Festveranstaltung zum Jubiläum in der Landeshauptstadt sein müsse. Die wird heute mit einem großen Festakt in der Liederhalle begangen. 1800 geladene Gäste, darunter Bundespräsident Joachim Gauck, werden auf 150 Jahre im Zeichen der Menschlichkeit anstoßen. „Darauf sind wir sehr stolz“, sagt der Sprecher des DRK-Landesverbands, Udo Bangerter.

Die Arbeit wird den Helfern künftig nicht ausgehen. Nicht nur, weil es hier und da Kritik an der Geschäftspolitik und an der Bezahlung der Mitarbeiter sowie massive Finanzprobleme in manchen Kreisverbänden gibt. In erster Linie ist das Rote Kreuz gefordert, weil die Ruhe in Mitteleuropa viele Menschen darüber hinwegtäuscht, dass die Welt in den vergangenen 150 Jahren nicht friedlicher geworden ist. „Derzeit verzeichnen wir 60 kriegerische Konflikte, da ist die Idee des Roten Kreuzes aktueller denn je“, sagt Schad. Und betont: „Neutralität ist nach wie vor unsere Geschäftsgrundlage.“

Henry Dunant und Christoph Ulrich Hahn würden solche Worte wohl gefallen. Inzwischen ist Dunants Erinnerungsort in Stuttgart nicht mehr allein. Das DRK hat jüngst an Hahns Grab auf dem Fangelsbachfriedhof ein ganz ähnliches Denkmal aufgestellt. Dort war zuvor nichts über ihn zu erfahren. Und nichts über die Ideen, die vor 150 Jahren in die Welt hinausgegangen sind.