Das Deutsche Literaturarchiv sucht eine neue Leitung. Noch vor Abschluss des Verfahrens wurde bekannt, dass die in Stuttgart lehrende Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter die Nachfolge des im nächsten Jahr auscheidenden Ulrich Raulff antreten soll. Aber was steckt hinter solchen Durchstechereien?
Stuttgart - Marbach schweigt. So beredt das Deutsche Literaturarchivdie Stimmen der Vergangenheit zum Leben zu erwecken vermag, so unerwidert verhallen derzeit die Fragen, die der Zukunft der Institution selbst gelten. Und dagegen wäre eigentlich nicht das Geringste einzuwenden, wenn dieses Schweigen nicht bereits an einer entscheidenden Stelle gebrochen worden wäre. Dass man sich überhaupt für die Zukunft dieser ihr intellektuelles Leuchtfeuer weit in die Lande aussendenden Institution interessiert, liegt an der im nächsten Jahr auslaufenden Amtszeit des jetzigen Direktors Ulrich Raulff. Dass aber neugierige Fragen im Raum stehen, bedingt der Umstand, dass schon vor Ablauf des Findungsprozesses ein Name in Umlauf gebracht wurde: jener der in Stuttgart lehrenden Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter.
Wie berichtet, soll sich eine von Marbach eingesetzte Kommission auf die 43-jährige Professorin geeinigt haben, die seit 2008 die Nachfolge des emeritierten Germanisten Heinz Schlaffer angetreten hat. Wer in dem Gremium sitzt, ist weder in Marbach selbst, noch im Baden-Württembergischen Wissenschaftsministerium zu erfahren, das laut Satzung der Deutschen Schillergesellschaft in dem Kuratorium vertreten ist, welches über die Berufung entscheidet. Vermutlich fürchtet man weitere Indiskretionen, die das Verfahren beeinträchtigen könnten. Den Verdacht, die Nachricht könnte gezielt durchgestochen worden sein, um Realitäten zu schaffen, weist die Sprecherin des Ministeriums zurück: „Wie das kommuniziert wurde, liegt in keiner Weise in unserem Interesse, wir waren darüber sehr unglücklich.“
„Seller Äpfel isch scho gesse, bevor er pflückt wurd“, kommentiert ein Marbach nahestehender Beobachter den Vorgang. Der Apfel war das zentrale Dingsymbol einer der letzten Ausstellungen auf der Schillerhöhe, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Gabe beschäftigte. In diesem Fall nun, der voreiligen Bescherung einer Führungsposition, würde man wohl eher von einem vergifteten Geschenk sprechen. Das ist ungefähr so, als würde Angela Merkel heute schon als künftige Bundeskanzlerin gefeiert, obwohl die Wahlen erst am Sonntag stattfinden.
Der einzige Satz, zu dem sich die Pressesprecherin des Literaturarchivs, Alexa Hennemann, hinreißen lässt, lautet folglich: „Der Findungsprozess ist noch im Gang, das Verfahren endet voraussichtlich erst im Oktober mit der Abstimmung des Kuratoriums.“ Ähnlich ergiebig die Stellungnahme Peter-André Alts, des Präsidenten der Schillergesellschaft: „Ich bitte um Verständnis, dass ich zur Findekommission und weiteren Verfahrensaspekten vor einer endgültigen Entscheidung, die dem Kuratorium obliegt, keine Auskünfte geben kann.“ Aber was bedeutet eine Abstimmung, wenn sie nur noch abnickt, was bereits beschlossen ist? Schweigen.
Es regiert der Konjunktiv
Gerne würde man sich also mit den vielen herausragenden Eigenschaften der ehemals jüngsten Lehrstuhlinhaberin Deutschlands auseinandersetzen, mit der Spannweite ihrer Publikationen, die von Beiträgen für das Bordmagazin der Lufthansa bis zu wissenschaftlichen Standardwerken reichen. Gerne würde man ermessen, was es heißen könnte, die Marbacher Institute erstmals in der Verantwortung einer Frau zu wissen. Denn so unbestritten die Verdienste des jetzigen Direktors Ulrich Raulffum die Strahlkraft des Archivs sein mögen, so konfliktfreudig präsentiert sich unter ihm der Geist des Hauses. Davon zeugt die Beurlaubung der Leiterin des Literaturmuseums der Moderne, Heike Gfrereis, ebenso wie der zurückliegende Streit mit der Deutschen Schillergesellschaft um eine Neuorganisation der Entscheidungsstrukturen.
Allein: Im Moment regiert noch der Konjunktiv. Und dies umso strenger, als es gerade mit Blick auf die zurechtgestutzten Machtbefugnisse des Trägervereins jeden Eindruck zu vermeiden gilt, das einst traditionsreiche Gremium diene nur noch als formaler Erfüllungsgehilfe. Deshalb ist es auch müßig, voreilig darüber zu spekulieren, ob Sandra Richter, so die Wahl wirklich auf sie fallen sollte, überhaupt bereit wäre, ihren Lebensmittelpunkt nach Marbach zu verlagern. Bisher lebt die mit einem Rechtsanwalt verheiratete Mutter zweier Kinder in Frankfurt. Ihre Stuttgarter Lehrverpflichtung hat sie vorwiegend als Pendlerin wahrgenommen. Einer Institution wie Marbach würde man auf diese Weise allerdings kaum gerecht.
Nicht auszudenken, was den findigen Kuratoren der Marbacher Ausstellungen zu einem Thema wie der Geschichte der Indiskretion wohl einfallen würde. Welche Depeschen, Schnipsel und Notizen sie aus dem Dunkel des Archivs ans Tageslicht befördern könnten. Sicher würde dabei die Frage nach den Motiven und geheimen Absichten eine zentrale Rolle spielen. Zur hinterhältigen Strategie der Indiskretion, wie sie in politischen Zusammenhängen immer wieder zur Anwendung gelangt, zählt auch das Kalkül, durch das vorzeitige Verraten von Geheimnissen Pläne zunichte zu machen, Namen zu verbrennen. Doch zu solchen pessimistischen Überlegungen schweigt Marbach.
So bleibt in der Zwischenzeit nur das Lob des Optimismus, dem Sandra Richter eine Publikation gewidmet hat. Sie entwickelt darin das Konzept eines verantwortungsvollen Optimismus, „aus der Wahrnehmung einer Welt, die der Ideen und Ideale bedarf, um Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu beschreiben und zu meistern“. Darauf kann man doch hoffen.