Form als Mittel der Zerstörung – der Angriff auf die ukrainischen Städte ist ein Angriff auf gelebte Vielfalt Foto: AFP/Bulent Kilic

Aktuell findet in Stuttgart der Deutsche Kunsthistorikertag statt. Die Tagung will klären, ob es in der Kunst nur um die Form geht. Der Krieg in der Ukraine nimmt die Antwort vorweg.

War da was um 2010? Ein Problem mit dem Kunsthistorischen Institut der Universität Stuttgart etwa? Gar ein Tauziehen um die mögliche Schließung? Andere Zeiten, andere Töne: „Unser Institut gilt als eines der ältesten kunsthistorischen Institute Deutschlands“, betont Universitätsrektor Wolfram Ressel dieser Tage. Und: „Wir haben in den zurückliegenden Jahren mit einer personellen und programmatischen Neuausrichtung dafür Sorge getragen, dass die kunstgeschichtliche Forschung an unserer Universität einen sichtbaren und erfolgreichen Beitrag leistet für unseren Stuttgarter Weg der Integration von Ingenieur-, Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften“.

Erfolgreiche Kunstgeschichte

Da hört man Eigenstolz heraus. Stolz sein aber dürfen zuvorderst jene, die das Institut aus wohl nur geträumten schweren Wettern neu positioniert haben: Noch bis einschließlich 27. März sind Daniela Bohde als Institutsleiterin und Kerstin Thomas als bestens vernetzte Gegenwartsspezialistin in der Gastgeberrolle für den Deutschen Kunsthistorikertag .

„Form Fragen“ ist dieser etwas hölzern betitelt, und Kerstin Thomas erlaubt uns mit ihrer Formulierung „Uns interessiert dabei besonders, wie Formen in gesellschaftlichen Zusammenhängen entstehen und welche Beziehung sie zu Politik und Wertvorstellungen haben“, fast schon einen Blick hinter die Kulissen kunsthistorischer Denksysteme.

Kerstin Thomas’ Impulse

Universität Stuttgart mit den zentralen Gebäuden K1 und K2 in der Stadtmitte Foto: uv

Schulterschluss mit den Architekten

Da passt es, dass das Kunsthistorische Institut bei der Vorbereitung der Arbeitstagung von Beginn an auf fachübergreifende Zusammenarbeit gesetzt hat. „Die Architektur heute fragt im Hinblick auf Ressourceneinsparung nach Formfindung durch computergestützte Methoden und innovative Fertigungsverfahren“, begründet Klaus Jan Philipp, Leiter des Instituts für Architekturgeschichte, den Schulterschluss.

Betont vielfältige Kooperationen

Auch die ständige Partnerschaft mit der Fachgruppe Kunstwissenschaften – Restaurierung an der Stuttgarter Kunstakademie zeigt Wirkung: „Wir nutzen unsere unterschiedlichen Kompetenzen für eine möglichst vielfältige Wissensproduktion“ freut sich Fachgruppenleiter Nils Büttner über einen betont weiten Tagungsradar. Die Staatsgalerie Stuttgart und das Landesmuseum Württemberg sind ebenso im Boot wie das Kunstmuseum Stuttgart und der international als Ort der Künstlerforschung ausgewiesene Württembergische Kunstverein. Dessen Chefduo Iris Dressler und Hans D. Christ ermöglicht den Tagungsgästen an diesem Samstag einen ersten Einblick in den Aufbau der Großausstellung zum Werk der afroamerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems (Eröffnung am 1. April). Die Frage, „wie heute über Form gesprochen werden kann“, beantwortet Meens mit klarer Positionierung gegen jede Form behaupteter Ort- oder Zeitlosigkeit.

Wirklich neue Fragen?

Ist aber 102 Jahre nach der Werkbundausstellung „Die Form“ eben diese Form tatsächlich in neuer Komplexität zu erfassen? Foren wie etwa „Visuelle Ähnlichkeit als relationaler Formbegriff: Automatische Bilderkennung von Reproduktionen frühneuzeitlicher Porträtgrafik“ (am Mittwoch von Nina Niedermeier aus Wolfenbüttel skizziert) deuten einen Zeitsprung an. Die kritische Befragung der Form könnte mit dem digitalen Werkzeugkasten – dem zuletzt die rasant wachsende NFT (Non Fungible Token)-Welt als doch konservativer Abklatsch der Idee eines übergreifenden und ausschließlich für sich bestehenden Konzepts entspringt – gerade auch manch eingeübten Blick auf die Alte Kunst erschüttern.

Die Ahnung des Bösen wird Gestalt – In Kiew wird die Form gelebter Vielfalt verteidigt Foto: AFP

Die Gegenfrage „Ist das nicht immer so – und immer wieder?“ muss kommen, ist richtig und zeigt: Die Form bleibt zuvorderst eine Unbekannte von nebenan. Anders aber als 1924 und anders auch als in den frühen 1970er Jahren scheint das Moment der Versöhnung weder als Idee noch als Ziel fassbar. Die Form ist buchstäblich in jeder Weise außer Form geraten. Nicht nur erfüllten sich Hoffnungen auf ein sich in der Form verkörperndes Leben nicht, mehr denn je ist die Form Mittel und Ziel der Zerstörung.

Rituelles Städtemorden – Zerstörung der Vielfalt

In allen Kriegen bekommt diese Zerstörung Methode. So auch jetzt, da die Russische Armee das in den Balkankriegen von Bogdan Bogdanovic als Rituelles Städtemorden identifizierte Auslöschen gelebter Vielfalt vor aller Kameraaugen in den ukrainischen Metropolen von Odessa bis Kiew als befohlenes Mittel der Generalstabswahl vorführt.

Verbrechen gegen die Form dokumentieren

Der Kunsthistorikertag in Stuttgart reagiert mit einem eigenen Forum „Ukraine: Kulturgüter in Gefahr“ will etwa die Vielzahl der Architektur-Schätze – von unserer Zeitung jüngst am Beispiel der umkämpften Hauptstadt Kiew thematisiert – in ihren zeithistorischen Verflechtungen deutlich machen. Parallel fordert der Dachverband der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, die Verbrechen gegen die Form umfassend zu dokumentieren. Auch diese Verbrechen sollen am Internationalem Gerichtshof in Den Haag einmal als Anklagepunkte gegen Russland aufgerufen werden können.

Was war, was kommt

Eröffnung
Ulrich Raulff, Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart, eröffnet die Tagung am Mittwoch, 23. März, im Neuen Schloss mit einem Festvortrag über „die gute Form und den schlechten Geschmack“ in der Kunstgeschichte.

Einblicke
 Öffentlich zugänglich ist die Diskussion „Formfragen in der Architektur“ an diesem Donnerstag, 24. März, in der Staatsgalerie. Beginn ist um 20 Uhr. (Rest-)Karten gibt es an der Abendkasse.