Der Brocken im Jahr 1990 mit den Überresten der DDR-Grenzbefestigung Foto: akg-images/Brigitte Hellgoth

Der Brocken ist der höchste Berg im Harz. Früher war er ein Symbol der deutsch-deutschen Teilung. Heute kann man hier viel lernen über den Stand der deutschen Einheit.

Stuttgart - Corona hat auch sein Gutes: In diesem Sommer bin ich mit der Familie nicht nach Frankreich oder Italien gereist, wie ursprünglich geplant, sondern in den Harz. Es war eine Reise in meine eigene Vergangenheit – und in die jüngste deutsche Geschichte.

Ich stamme aus Niedersachsen und bin in den 1970er Jahren das letzte Mal im Harz gewesen. Damals war der Harz, wie das ganze Deutschland, geteilt. Die deutsch-deutsche Grenze verlief mitten hindurch. Der höchste Berg im Harz, der Brocken, lag auf der Ost-Seite. Die DDR und die Sowjetunion nutzten ihn für große Abhöreinrichtungen, mit denen sie in den Westen hinein lauschten.

Für uns Westdeutsche war dieser Berg so unerreichbar wie für den normalen Ost-Deutschen auch. Der Brocken war militärisches Sperrgebiet. Vom Westen aus konnte man ihn nur aus der Ferne betrachten.

Am 9. November 1989 ging die Mauer auf. Fast überall, nur nicht am Brocken. Dieses Sperrgebiet hatte zunächst weiter Bestand. Erst als am 3. Dezember 1989 ein Zug friedlicher, aber unbeirrbarer Wanderer auf den Gipfel zog, fiel auch diese Bastion des Kalten Krieges. Die Soldaten der DDR, die auf gut tausend Meter Höhe Wache schoben, leisteten keinen Widerstand, als sich ihre Landsleute diesen Sehnsuchtsort vieler Ost-Deutscher zurückeroberten.

Befund 1: Am Anfang war die friedliche Revolution

Als ich von dieser Geschichte bei unserer diesjährigen Harz-Reise erfuhr, wurde mir einmal mehr bewusst, was 1989 in Deutschland geschah: eine friedliche Revolution, getragen und angetrieben von ganz normalen, mutigen Bürgern. Sie fegte nicht nur ein Regime weg, sondern bedeutete das Ende der großen Ost-West-Spaltung in Europa.

Entlang des Brockens holt sich die Natur seither langsam den „Todesstreifen“ zurück. Wo einst die Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee patrouillierten und auf sogenannte „Republikflüchtlinge“ schossen, verläuft jetzt ein Grenzwanderweg – das „Grüne Band“.

Wenn man allerdings heute mit dem Auto über die ehemalige Grenze fährt, muss man schon sehr genau aufpassen, um sie überhaupt zu bemerken. Das geht eigentlich nur, weil ein Schild am Straßenrand darauf aufmerksam macht. Es wird viele geben, die achtlos an diesem Schild vorbeifahren.

Befund 2: Die Spurenbeseitiger waren zu fleißig

Wir haben die Spuren der deutschen Teilung teilweise so gründlich getilgt, dass es Jüngeren schwerfällt, sich Mauer, Stacheldraht und das mörderische Grenzregime der SED vorzustellen – selbst wenn sie an dem historischen Ort stehen.

Das gilt sogar in Berlin. Auch in der vormals geteilten Hauptstadt gibt es nur noch wenige Reste der alten Grenzanlagen zu sehen. Möglicherweise haben wir es mit dem Ausmerzen der Geschichtsspuren etwas übertrieben. Umso wichtiger ist es deshalb, mit unseren Kindern über diese Geschichte zu reden.

Diesmal war ich mit meinen Kindern natürlich nicht nur auf dem Brocken, sondern auch in den Städten daneben. Halberstadt, Quedlinburg, Wernigerode – das sind wahrhaft geschichtsträchtige Städte.

Mancher mag sich erinnern, wie die ostdeutschen Innen-Städte zur Wendezeit aussahen. Grau, verfallen, verrottend – im Grunde kurz vor dem Abriss. Und genau das hatte die DDR-Führung damals für viele Städte vor. Sie wollte die alten Innenstädte schleifen und durch Plattenbauten ersetzen. Gott sei Dank war die DDR damals so finanzschwach, dass ihr das Geld dazu fehlte.

Welch eine Ironie: Die Geldknappheit der DDR machte es möglich, dass die alte, oft mittelalterliche Bausubstanz 1990 nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten noch da war und mit viel westdeutschem Geld saniert werden konnte. Heute haben viele ostdeutsche Städte die schönsten Altbauensembles von ganz Deutschland.

Befund 3: Helmut Kohl hatte doch recht

Wie sehr ist der Einheitskanzler Helmut Kohl für sein Wort verspottet worden, dass es in Ost-Deutschland nach der Wiedervereinigung „blühende Landschaften“ geben werde? Zumindest für die allermeisten ostdeutschen Städte hat sich dieses Wort jedoch bewahrheitet. Sie strahlen heute in nie gekanntem Glanz.

Alles gut also? Überhaupt nicht.

Meine Familie und ich waren erschüttert von dem Bild, das der Harz heute abgibt. Er ist tot. Im wörtlichen Sinne: tot. In dem waldreichen Mittelgebirge gibt es heute riesige Flächen mit abgestorbenen Bäumen. Und weite Flächen, auf denen die Bäume schon gerodet wurden und nur noch der aufgewühlte Waldboden zu sehen ist. Schaut man auf den Brocken, sieht man ganz viel Braun und nur kleine Flecken mit Grün. Ein schreckliches Bild.

Der Harz, in dem die Menschen über Jahrzehnte unter dem Kalten Krieg und der deutschen Teilung litten, ist heute gezeichnet durch die Folgen des Klimawandels.

Wenn wir in diesen Tagen über 30 Jahre Wiedervereinigung sprechen, also über die anhaltenden Unterschiede im Osten und Westen, die es auf dem Weg zu einer echten Einheit noch auszugleichen gilt, dann sollten wir diese Bilder der sterbenden Wälder im Harz nicht vergessen.

Befund 4: Es gibt Größeres als deutsch-deutsche Unterschiede

Bei allen Gefühlen, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die Deutsche Ost und Deutsche West heute noch immer trennen mögen – sie werden in ihrer Bedeutung relativiert durch die großen Themen, die uns alle gemeinsam angehen und die wir nur gemeinsam lösen können: sei es das Coronavirus oder die drohende Klimakatastrophe.

Rainer Pörtner, Jahrgang 1961, war von Anfang 1990 bis Mitte 1991 für das Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“ Korrespondent in Ost-Berlin. Heute leitet er das Politik-Ressort von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten.