Der 52-jährige Christian zählt zu den ältesten Klienten des Drogenvereins Mannheim. Bislang schafft er es nicht, seinen Opioid-Konsum mithilfe von Substitution vollständig aufzugeben. Foto: Johanna Wendel

Baden-Württemberg verzeichnet einen eklatanten Anstieg drogenbedingter Todesfälle. Woran liegt das? Und was ist dagegen zu tun?

Wenn Anja Antonio am Leonhardsplatz saubere Spritzen verteilt, trifft sie immer auf viele bekannte Gesichter. Die Leute freuen sich, wenn sie vorbeikommt, Zeit für ein Schwätzchen hat oder bei Amtsanträgen helfen kann. Anja Antonio kennt ihre Lebensrealität: Vor einigen Jahren war sie selbst auf den Halt angewiesen, den sie jetzt bei JES, einem Stuttgarter Selbsthilfenetzwerk für Abhängige, geben kann. „Heute schaue ich anderen beim Konsumieren zu und es löst nichts mehr in mir aus“, sagt sie.

 

Auch Ende der 90er will sie nichts von Drogen wissen. Damals flieht sie als 20-Jährige vor ihrem gewalttätigen Partner und lebt daraufhin in Frankfurt auf der Straße, wo sie die stetig wachsende Drogenszene abschreckt. „Also zog ich weiter, ohne einen wirklichen Plan wohin“, erzählt sie. Als ihr Auto in Stuttgart den Geist aufgibt, entscheidet sie zu bleiben.

Wie entkommt man der Abwärtsspirale verschiedener Drogen?

Der Alkohol wird für sie zum Problem. Sie nimmt sich vor, etwas zu ändern: eine Ausbildung als Schreinerin machen und weniger trinken. Im letzten Lehrjahr empfindet sie den Druck als zu übermächtig. Zum ersten Mal und trotz aller Vorbehalte konsumiert sie Heroin.

„Erst machte ich es nur an den Wochenenden, dann immer häufiger.“ Die Ausbildung schließt sie noch ab, die Sucht aber hat sie da schon in ihren Fängen. „Ich war zu blauäugig, um das zu erkennen”, sagt die 49-Jährige heute. Mit Anfang 30 will sie weg vom Heroin – und entkommt nach einigen Anläufen über eine Substitutionstherapie tatsächlich der Abwärtsspirale. Sie ist immer noch dankbar dafür, dass es Anlaufstellen wie JES gibt. „Nun auch anderen helfen zu können, hält mich stabil und bestärkt mich in meinem Weg.“

Wie Anja Antonio noch rechtzeitig aus der Drogenabhängigkeit zu finden, ist vielen nicht möglich: Im vergangenen Jahr starben 2137 Menschen in Deutschland am Konsum illegalisierter Drogen. Damit bewegt sich die Anzahl seit einigen Jahren wieder auf einem ähnlich hohen Niveau wie zuletzt vor 25 Jahren.

Eine Entwicklung, die sich auch in Baden-Württemberg bestätigt: Mit 195 Todesfällen stieg die Zahl 2024 um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Über die Gründe lässt sich bisher nur mutmaßen. Experten sprechen von genereller Verunsicherung sowie düsteren Zukunftsaussichten – was zu mehr Konsum und mehr Risikobereitschaft führen könnte.

Neue psychoaktive Stoffe wie Fentanyl

Auffallend im Südwesten ist laut Innenministerium die starke Zunahme (von zwei auf 26 im vergangenen Jahr) der Todesfälle im Zusammenhang mit neuen psychoaktiven Stoffen, insbesondere synthetischen Opioiden. Dazu zählt Fentanyl, das sich in den USA seit einigen Jahren epidemieartig verbreitet und dort 2024 für mehr als 48 000 Todesfälle verantwortlich war.

Neue Opioid-Varianten tauchen fast wöchentlich auf und werden zum Strecken von Heroin verwendet – mit der Gefahr, dass sich die Wirkung um ein Vielfaches verstärkt. Synthetische Opioide seien, so das Innenministerium, „teilweise im Internet frei zugänglich, unterliegen bislang keinen gesetzlichen Verboten und ähneln in der Wirkweise klassischen Drogen und Medikamenten“.

Freunde und Bekannte starben durch Überdosen an Drogen

Auch in Stuttgart, wo im vergangenen Jahr 20 Menschen am Konsum illegaler Drogen starben, beobachtet man diese Tendenz mit großer Sorge. Synthetische Opioide hätten eine deutlich höhere Potenz als bisher gängige Substanzen, erklärt Roland Baur, Vorsitzender des JES. Diese bewege sich im Bereich des 100-fachen. „Sowohl junge als auch erfahrene Konsumierende können deren Wirkung kaum einschätzen.“

Anja Antonio erlebte mehrmals, wie Freunde und Bekannte durch Überdosen starben. Doch auch an Begleit- und Folgeerkrankungen des langjährigen Konsums verlor sie immer wieder geliebte Menschen. „Leider gehen viele nicht regelmäßig zum Arzt, Diagnosen werden dadurch häufig erst sehr spät gestellt. Zudem nehmen sie durch die Substanz Schmerzen weniger wahr“, sagt sie. Diese Todesfälle tauchen in der Statistik überhaupt nicht auf.

Die Gefahr der Spätfolgen

Die Zahl der Drogentoten sei deshalb nur ein Puzzleteil der realen Situation, sagt Philip Gerber vom Drogenverein Mannheim. So zählte man in der Rhein-Neckar-Metropole im vergangenen Jahr fünf Todesfälle – der Drogenverein Mannheim hingegen 13. Dabei handelt es sich um verstorbene Klienten der Einrichtung, darunter auch solche, die den Spätfolgen ihres Konsums zum Opfer fielen. „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass auch die Umstände Todesfälle verursachen, nicht nur die Substanz selbst“, Gerbers Kollegin Cornelia Schartner.

Was das in der Realität bedeutet, sehe man auch am Alter der Toten – nicht alle Klienten erreichen die 50. „Jeder, der noch da ist, ist für mich ein Überlebender.“

Mit 195 Todesfällen stieg die Zahl 2024 um 40 Prozent in Baden-Württemberg im Vergleich zum Vorjahr. Foto: dpa/Boris Roessler

So auch der 52-jährige Christian. Er zählt zu den ältesten Klienten des Drogenvereins. Seit mehr als 30 Jahren kommt er regelmäßig vorbei. Dreimal in der Woche sammelt er an stark frequentierten Plätzen gebrauchte Spritzen ein, damit sich keine Kinder oder Tiere daran verletzen. „Außerdem können wir so einen Überblick über die Mengen an unterschiedlichen Tagen und Orten weitergeben“, sagt Christian. Durch einen Anstieg des Kokainkonsums müsse er in letzter Zeit deutlich mehr Spritzen aufsammeln. „Die Wirkung von Kokain hält nicht so lange an wie bei Heroin, deshalb wird es oft gespritzt.“

Viel Kokain und wenig Heroin sind im Umlauf

Cornelia Schartner sagt, der Kokainanstieg hänge mit Afghanistan zusammen: „Die Taliban haben einen Großteil der Schlafmohnfelder im Land abgebrannt, aktuell ist kaum Heroin im Umlauf.“ Kokain sei für viele eine Alternative. „Der Reinheitsgehalt von bis zu 80 Prozent birgt ein erhöhtes Abhängigkeitsrisiko sowie eine Gefahr von Überdosierungen.“

Synthetische Opioide seien in Mannheim bisher nicht sehr verbreitet. Christian weiß um deren Gefahr: „Ich würde so was nie nehmen, es ist unmöglich zu dosieren.“ Anders als Anja Antonio konnte Christian seinen Drogenkonsum mithilfe von Substitution nicht vollständig aufgeben. Gelegentlich konsumiert er noch, auch Kokain. „Ich achte aber sehr darauf, wie viel ich nehme“, sagt er. „Wenn ich genug habe, entsorge ich den Rest. Viele sind nicht so konsequent und übertreiben es.“

Anlaufstellen für Drogenabhängige

Philip Gerber vom Drogenverein plädiert für eine „radikale Akzeptanz“ des Konsums. „Natürlich würde ich den Menschen etwas anderes wünschen und natürlich möchte mit ihnen auf etwas anderes hinarbeiten. Aber es entstigmatisiert die Betroffenen.“ Einrichtungen wie der Mannheimer Kontaktladen Kompass, Anlaufstellen wie das Café Anker oder Konsumräume (wo Abhängige unter hygienischen Bedingungen und der Aufsicht medizinisch geschulten Personals mitgebrachte Drogen nehmen dürfen) förderten einen offeneren Umgang mit dem Thema, sagt Gerber.

Es gibt zwar Pläne für einen Konsumraum in Mannheim, aber noch fehlen die finanziellen Mittel. Ambulante Suchthilfeeinrichtungen und somit auch Konsumräume gelten als kommunale Freiwilligkeitsleistung.

Bisher existieren in Baden-Württemberg drei Konsumräume: In Karlsruhe eröffnete 2019 der erste, 2024 folgte Freiburg und im Juni dieses Jahres Stuttgart. Für ein Flächenland wie Baden-Württemberg sei das noch zu wenig, sagt Andreas Kenner, suchtpolitischer Sprecher der SPD im Landtag: „Konsumräume retten nachweislich Leben, senken Infektionsrisiken, schaffen Kontaktmöglichkeiten zu Hilfsangeboten. Deshalb brauchen wir mindestens in jeder größeren Stadt einen.“

Auch mit der aktuellen Erhöhung der Landeszuschüsse um 4,5 Millionen Euro pro Jahr für Suchtberatungsstellen sei das noch ein weit entferntes Ziel. Doch ein Anfang. „Ich bin zumindest froh darüber“, sagt Kenner, „dass dadurch einige Beratungsstellen, die auf der Kippe standen, nicht schließen müssen.“

Drogenrückstände im Abwasser

Für ihn ist klar: Die Drogenpolitik benötigt einen Kurswechsel. Repression allein greife zu kurz. „Wir müssen über eine Entkriminalisierung des Besitzes kleiner Mengen sprechen – um Hilfsangebote statt Strafverfolgung in den Mittelpunkt zu stellen.“ Außerdem brauche es dringend einen Ausbau der Präventionsarbeit. „In Baden-Württemberg existiert keine verpflichtende Suchtprävention an Schulen“, sagt Kenner. „Wir erreichen nicht mal alle Schüler zumindest einmal in ihrem Schulleben. Eigentlich ist das ein Skandal.“

Dann wäre da noch das Drug-Checking. Heißt: Konsumenten illegaler Drogen können ihre Substanzen anonym auf Inhaltsstoffe und Verunreinigungen testen lassen – etwa in mobilen Labors bei Festivals oder in spezialisierten Einrichtungen. Bisher existieren Testmodelle nur in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Hierzulande ist man noch nicht so weit. Um gesamtgesellschaftliche Konsummuster ablesen zu können, werden in Stuttgart aktuell Abwasseranalysen durchgeführt.

Als erfolgreichste Behandlungsmethode von Heroinabhängigkeit gilt die Opioidsubstitutions-Therapie. Doch das Angebot ist besonders in ländlichen Gebieten zu gering und droht, bundesweit weiter zu schrumpfen. Ein Großteil der Ärzte, die Substitutionstherapie anbieten, seien über 60, sagt Andreas Kenner. „In einigen Jahren wird ein Mangel an Behandlungsmöglichkeiten entstehen.“

Anja Antonio hat die Substitutionstherapie nicht nur das Leben gerettet, sie fand so auch neue Kraft, es umzukrempeln. „Wenn man aufhören möchte, ist es ganz wichtig, eine Perspektive zu haben“, sagt sie. „Neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit bei JES hat sie eine zweite Ausbildung abgeschlossen – als Arbeitserzieherin. Noch muss ihr der Ersatzstoff helfen, sich normal zu fühlen. „Aber irgendwann möchte ich natürlich clean sein.“