Das Segelboot des Künstlers Erwin Wurm Foto: Martin Argyroglo/Martin Argyroglo

Die westfranzösische Stadt Nantes hat sich von der Industrie- zur attraktiven Kulturmetropole entwickelt. An jeder Ecke gibt es hintergründige und witzige Kunstwerke zu bestaunen.

Breitbeinig steht die große Männerfigur im Anzug auf dem hellen Sockel an prominenter Stelle mitten in der Stadt. Doch etwas an der Skulptur irritiert: Nur ein Bein ist mit dem steinernen Untergrund verbunden, das andere schwebt in der Luft, steht gewissermaßen daneben, was in der wirklichen Welt so gar nicht möglich wäre. In der Kunst schon. Sie nimmt sich die Freiheit, die Gesetze von Schwerkraft und Rationalität aufzuheben und mit einem gewagten Schritt zur Seite neue, ungewohnte Dimensionen der Wahrnehmung aufzuzeigen.

 

Philippe Ramette heißt der Künstler, der sich in Nantes gleich mehrfach mit solch absurden, hintergründigen Werken verewigt hat. Neben dem geschniegelten Anzugträger auch mit einem sehr lebensecht wirkenden Mädchen aus dunkler Bronze, das offenbar im Begriff ist, auf einen ebenfalls hellen Sockel zu klettern. Aber auch hier trügt der Schein, wie Stadtführerin Hedwig Verdure weiß: Das Mädchen will nicht auf den Sockel hinauf, sondern davon herunter. Zwei Löcher in den Füßen der Bronzefigur sowie zwei goldfarbene Bolzen auf dem Podest lassen auf ein langes festgenageltes Herumstehen schließen, von dem das Kind offenbar die Nase voll hatte und sich nun kurzerhand in die Freiheit begibt. So nachvollziehbar wie ungewöhnlich. „Ja, es gibt viele schräge Dinge hier“, freut sich Hedwig Verdure über die verblüfften Gesichter, „aber das macht auch den Charme von Nantes aus.“

Das grüne Band am Boden

Mit fantastischen Einfällen ist die einstige Hauptstadt der Bretagne und heutige Metropole der Region Pays de la Loire reich gesegnet. Allein der berühmteste Sohn der Stadt, der Schriftsteller Jules Verne, hat mit Werken wie „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ oder „20 000 Meilen unter dem Meer“ den Horizont des Erfahrbaren in die unendliche Welt der Vorstellung katapultiert. Auf einem Hügel im Wohnviertel Chantenay wird der Science-Fiction-Autor mit einem Museum und einer Skulptur gewürdigt, die ihn als Knaben auf einer Bank sitzend neben dem hünenhaften Kapitän Nemo zeigt. Von dort reicht der Blick weit über die Loire, den Hafen und die Dächer von Nantes.

Ein grünes Band am Boden leitet die Besucher von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, Kilometer um Kilometer kann man sich so – am besten zu Fuß – die vielen Facetten dieser lebendigen und einfallsreichen Stadt zu Gemüte führen. „Le Voyage à Nantes“, die Reise nach Nantes, nennt sich der abwechslungsreiche Rundgang entlang der grünen Linie, der neben kreativen Kunstwerken auch Geschäfte, Parks, Lokale und die Natur einbezieht. Jedes Jahr im Sommer wird das Ganze zwischen Juli und September um neue Attraktionen erweitert, von denen einige nur vorübergehend, andere dagegen bleibend neue Akzente im öffentlichen Raum setzen.

Nantes liegt an der Loire Foto: STZN/Lange

Da hat beispielsweise ein junger Pflanzenfan den Innenhof vor seiner Wohnung in einen riesigen grünen Dschungel verwandelt, an anderer Stelle umspannt ein überdimensionales gelbes Maßband, wie man es von Schneidern kennt, Gebäude und Außenbereich einer Konstruktionsfirma, und am Ufer der Loire bekommt der Blick auf Stadt und Fluss durch 18 große aufgereihte Ringe einen kunstvollen Rahmen.

Hier, auf der Insel mitten im Fluss, laden auch die berühmten „Maschinen der Insel“ zu einem von Jules Verne inspirierten Ausflug in imaginäre Welten ein. In den ehemaligen Werfthallen haben kreative Köpfe fantastische Wesen zum Leben erweckt: Wenn die gigantische Spinne mit bunt flackernden Augen ihre langen Beine in Bewegung setzt oder der knapp unter der Decke hängende Riesenreiher seine Schwingen ausbreitet, wird das Spektakel gebannt verfolgt und natürlich mit unzähligen Handys gefilmt. Stets darf bei den Vorführungen auch jemand aus dem Publikum mithelfen und angeleitet vom Team den Flügelschlag des Vogels oder das Öffnen und Schließen des Spinnenmauls steuern.

Fantastische Abenteuer

Regelmäßig verlässt zudem ein zwölf Meter hoher und 21 Meter langer Elefant aus Holz und Stahl seine Halle und spaziert mit Dutzenden Passagieren auf seinem Rücken über das Gelände, wo auch noch das dreistöckige Meeresweltenkarussell zum Eintauchen in ein fantastisches Abenteuer mit Riesenkrebs, Kofferfisch und Sturmschiff bittet.

Der einmalige Maschinenpark, in dessen Werkstätten bis heute neue Ideen umgesetzt werden, wurde mit dem Niedergang der Werften Ende des vergangenen Jahrhunderts ins Leben gerufen. Er ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich die Industrie- und Handelsmetropole zu einem attraktiven Dienstleistungszentrum gewandelt hat. Und natürlich – wir sind in Frankreich – kommen neben den optischen Genüssen auch die kulinarischen nicht zu kurz. Durch die Nähe zum Atlantik stehen auf den Speisekarten der Restaurants köstliche Meeresfrüchte und Fisch, zu denen der für die Region typische Weißwein Muscadet wunderbar passt.

Unmenschlicher Sklavenhandel

Gestärkt geht es weiter zur nächsten Sehenswürdigkeit, die an ein eher unrühmliches Kapitel der Stadtgeschichte erinnert: das Denkmal zur Abschaffung der Sklaverei auf der anderen Flussseite. Schon auf dem Weg dorthin fallen unzählige Pflastersteine mit Namen und Jahreszahlen ins Auge, etwa „La Finette“ (1754) oder „La Tolérance“ (1789). Sie benennen Schiffe, die im 18. Jahrhundert Millionen Menschen aus Afrika via Nantes nach Amerika und auf die europäischen Übersee-Plantagen brachten. In einem langen unterirdischen Gang zeichnen dann Tafeln mit Karten, Zahlen und Zitaten den Weg des unmenschlichen Sklavenhandels bis hin zu dessen Abschaffung Mitte des 19. Jahrhunderts nach.

Nantes war jahrhundertelang einer der wichtigsten Überseehäfen Frankreichs, obwohl die Loire erst 60 Kilometer weiter westlich in den Atlantik mündet. Entlang der Strecke lassen sich auch hier skurrile und witzige Werke namhafter Künstler aus aller Welt bestaunen. Zu den insgesamt 33 meist riesigen Objekten an beiden Ufern und teilweise sogar im Bett des Flusses gehört beispielsweise ein kühn geschwungenes Segelboot des Österreichers Erwin Wurm, das sich offenbar vom Kai ins Wasser stürzen will, um endlich in seinem Element zu sein.

An anderer Stelle ragt das überdimensionale Skelett einer Seeschlange aus den Fluten und scheint bei Ebbe fast an Land zu kriechen. „Estuaire Nantes–Saint-Nazaire“ nennt sich das 2007 gestartete Projekt, das die maritime Seite der Region mit spannenden Verbindungen von Natur, Kunst und Fluss in den Blick nimmt.

Wer mit der Besichtigung gleich noch etwas für seine Fitness tun will, mietet sich ein Fahrrad oder E-Bike und lässt sich auf der entsprechenden Teilstrecke des Radwegs „Loire à velo“ von den stets zum Nachdenken und Staunen anregenden Einfällen der Künstler überraschen und beflügeln.

Info

Anreise Mit dem TGV nach Paris-Est, weiter ab Paris-Montparnasse nach Nantes. Zeit für den Umstieg und den Bahnhofwechsel einplanen! Infos unter: www.bahn.de oder www.sncf-connect.com.

Unterkunft
Zentral gelegen: das sympathische Drei-Sterne-Hotel Voltaire Opéra, Doppelzimmer mit Frühstück ab 117 Euro, www.hotelvoltaireoperanantes.com. In minimalistischem Design gehalten: Vier-Sterne-Hotel La Pérouse, DZ ab 135 Euro, www.hotel-laperouse.fr.

Essen und Trinken
Prächtig im Jugendstil ausgestattet: Das Restaurant La Cigale, wo Schätze des Meeres aufgetischt werden, www.lacigale.com. Leckere Gallettes und Crêpes in süßen und salzigen Varianten serviert das Team von Le Coin des Crêpes, www.lestablesdenantes.fr

Aktivitäten
Mit dem Nantes-Pass für 24 Stunden (27 Euro), 48 Stunden (37 Euro) oder 72 Stunden (45 Euro) sind Busse, Trams und Fähren in der Stadt sowie der Flughafenshuttle und Eintritte in die Museen frei, www.levoyageanantes.fr. Kunstparcours entlang der grünen Linie im Stadtgebiet: www.levoyageanantes.fr Maschinenpark auf der Insel, www.lesmachines-nantes.fr. Denkmal zur Abschaffung der Sklaverei, https://memorial.nantes.fr/en/.Schloss der Herzöge der Bretagne, www.chateaunantes.fr.

Allgemeine Informationen
Frankreich Tourismus, www.atout-france.fr; Tourismusbüro der Stadt Nantes, www.levoyageanantes.fr