Rani Khedira kam 2005 zum VfB und ist unter Thomas Schneider fester Bestandteil des Bundesliga-Kaders. Foto: Pressefoto Baumann

Unter Ex-Trainer Bruno Labbadia wurden die Spieler aus der eigenen Jugendabteilung eher stiefmütterlich behandelt – nun soll das beim VfB wieder anders werden. Aus gutem Grund, denn ansonsten drohen dem Club aus Cannstatt die Felle bei den Toptalenten davonzuschwimmen.

Stuttgart - Dominik Martinovic (16) hat Mittagspause, und was er währenddessen vom Jugendinternat des FC Bayern München aus zu sehen bekommt, spornt ihn an. Der Trainingsplatz der Bundesliga-Profis ist in Sichtweite. Der Stürmer hat seinen großen Traum täglich vor Augen – in ein paar Jahren will er selbst Teil der zurzeit besten Vereinsmannschaft der Welt sein. „Dafür tue ich alles“, sagt Martinovic, der die Vorrunde der U 17 wegen eines Risses am Syndesmoseband verpasste und in der Rückrunde „voll angreifen“ will.

Es ist noch nicht lange her, da tat der junge Bursche mit dem ausgeprägten Torriecher alles für den VfB. Unter dem heutigen Bundesliga-Trainer Thomas Schneider wurde er 2013 deutscher Meister mit den U-17-Junioren. Es folgte der Wechsel nach München, was laut Martinovic aber keinesfalls eine Entscheidung gegen den VfB gewesen sei. Sondern eine „für den FC Bayern“.

Martinovic reihte sich in die Riege jener talentierten Jungs ein, die dem VfB in den vergangenen Jahren den Rücken kehrten. Serge Gnabry etwa erfüllte sich einen Traum und wechselte 2011 zum FC Arsenal, Sead Kolasinac ging im gleichen Jahr zum FC Schalke und fasste dort in der Bundesliga Fuß, Jeremy Toljan zog es zu 1899 Hoffenheim und kam dort zu seinen ersten Bundesliga-Einsätzen, und Joshua Kimmich ging zuletzt auf Leihbasis zu RB Leipzig, wo er in der dritten Liga für Furore sorgt. Demgegenüber steht der Verbleib von Talenten wie Timo Werner oder Rani Khedira, die mittlerweile feste Größen im Bundesliga-Kader sind, und jenen vier Talenten (Tim Leibold, Marvin Wanitzek, Arianit Ferati und Timo Baumgartl), die beim Trainingslager der Profis in Südafrika mit dabei waren. Obendrein schaffte es der VfB 2011, einen Jugendnationalspieler namens Antonio Rüdiger von Borussia Dortmund zu verpflichten.

Fakt ist aber: Der Kampf der Clubs um die besten Jugendspieler wird immer härter. Oder, wie es Ralf Becker, Nachwuchschef des VfB, ausdrückt: „Früher gab es einige wenige Vereine, darunter der VfB, die sehr viel Wert auf die Jugendarbeit gelegt haben – heute ist das mit den Nachwuchsleitungszentren der Clubs ganz anders.“

Soll heißen: Jeder halbwegs ambitionierte Verein ist auf der Jagd nach den besten Jugendspielern, das Ringen um die Talente wird zäher, und die Konkurrenz für den VfB ist größer geworden. Vereinswechsel sind im Jugendbereich fast schon alltäglich geworden, weshalb sich die Frage stellt, was der VfB tun kann, um die Besten künftig zu halten. Und sie nicht, wie im Fall von Martinovic, ziehen lassen zu müssen. „Wir wissen, dass wir gute Arbeit abliefern“, sagt Becker, „und dass der eine oder andere Jugendspieler uns verlässt, ist ganz normal.“

Dann spricht Becker Tacheles. „Es bringt nichts, viel darüber zu reden. Wir müssen uns daran messen lassen, wie viele Jugendspieler in ein paar Jahren im Bundesliga-Team auf dem Platz stehen. Wir müssen unseren Jungs eine Vision und eine klare Perspektive aufzeigen.“ Die Durchlässigkeit müsse gelebt werden, ergänzt Becker.

In diesem Punkt scheint der VfB – siehe Werner und Rani Khedira oder die vier Jugendspieler, die in Südafrika dabei waren – wieder auf einem guten Weg zu sein, was in der jüngeren Vergangenheit nicht immer der Fall war. Unter Ex-Trainer Labbadia bekamen die Jugendspieler nicht wirklich die Chance, dauerhaft in der Bundesliga Fuß zu fassen. Einigen fehlte die klare Perspektive, weshalb es sie zu anderen Clubs zog. „Ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte, wenn Thomas Schneider damals schon Bundesliga-Trainer gewesen wäre“, meint Martinovic vielsagend über den Zeitraum im vergangenen Jahr, als er sich zwischen dem VfB und dem FC Bayern entscheiden musste.

Wer sich in der Branche umhört, registriert tatsächlich, dass der VfB in den vergangenen Jahren trotz der exzellenten Nachwuchsarbeit darunter litt, dass den Jugendspielern unter Labbadia kaum noch Chancen aufgezeigt wurden – und dass auf den Führungspositionen im Jugendbereich eine große Fluktuation und wenig Kontinuität vorherrschten. Der langjährige Jugendleiter Frieder Schrof und Jugendkoordinator Thomas Albeck gingen zu RB Leipzig, Nachwuchskoordinator Marc Kienle, der jetzt Trainer beim SV Wehen Wiesbaden ist, zog es zum FC Bayern, zuvor war Rainer Adrion der erfolgreiche Talentschmied des VfB – nun aber gab es in gewissen Zeiten keine fixen Ansprechpartner und somit Vertrauenspersonen mehr für die Jugendlichen.

Jetzt, unter Chefcoach Thomas Schneider und Nachwuchschef Ralf Becker, ist das wieder anders. Es gibt sie wieder, die klare Perspektive und die von Becker und Schneider vorgelebte Philosophie, auf die Jugendspieler zu bauen – was aber nicht heißt, dass der VfB sich darauf ausruhen kann.

Denn neben der Aussicht auf den Sprung in den Profikader spielen andere Dinge für die Clubs ebenfalls eine große Rolle, wenn es darum geht, die besten Jugendspieler halten zu können. Rund um den Wechsel von Dominik Martinovic etwa gab es Gerüchte, wonach der FC Bayern der Familie des Spielers eine Eigentumswohnung in München verschafft haben soll. Zudem soll der Rekordmeister Martinovics Vater einen Job bei einem Autobauer in Aussicht gestellt haben. Das alles wurde vorerst hinfällig, weil Dominik Martinovic im Internat an der Säbener Straße wohnt und sich nach eigenen Angaben „pudelwohl“ fühlt. Seine Familie zog nicht mit nach München – finanzielle Anreize seien, wie zu hören ist, aufgrund des guten Jobs des Vaters ohnehin nicht nötig gewesen. Dennoch sagt Martinovic im Rückblick, „dass Bayern sicher einiges dafür getan hätte, um mich zu verpflichten“.

Das Beispiel zeigt, wie die Branche tickt. Anreize und mögliche Jobs für Familienangehörige gehören mehr und mehr zum Paket, wenn ein Verein dem anderen ein Toptalent abwerben will. Da wird zum Beispiel eine Anstellung als Platzwart vermittelt, oder der Onkel des Talents kommt in der Scouting-Abteilung des neuen Vereins unter.

Beim VfB sei diese Praxis noch nicht üblich, sagt Ralf Becker. „Aber das heißt nicht, dass wir uns da komplett verschließen, man muss immer innovativ sein.“

Auch das liebe Geld spielt im Ringen um die Jugendspieler eine Rolle – allerdings, wie Ralf Becker betont, eine untergeordnete. „Wer im Zusammenhang mit jungen Spielern erst mal vom Geld anfängt, weiß nicht, worum es geht“, sagt der VfB-Nachwuchschef, „die sportliche Perspektive ist immer mit Abstand das Wichtigste, die Jungs bekommen im Rahmen ihres Fördervertrags nicht mehr als ein Taschengeld.“ In der Regel sei dieser monatliche Bruttobetrag nicht im vierstelligen Bereich, nur bei Toptalenten machten die Vereine Unterschiede. Ein Brutto-Monatsgehalt in Höhe von 2500 Euro sei laut Branchenkennern die Ausnahme.

Nichtsdestotrotz bot der FC Bayern Dominik Martinovic 200 bis 300 Euro mehr im Monat als der VfB – was laut Angaben aus dessen Umfeld aber nicht den Ausschlag gab für den Wechsel. Allein die sportliche Perspektive habe gezählt. Eine Perspektive, die der VfB nun auch wieder bieten will.