„Früher mussten wir stricken, heute dürfen wir“: Ilse, Hannelore, Brigitte und Ruth (von links) Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Und mag die Welt sich immer schneller drehen, in der evangelischen Begegnungsstätte von Stuttgart-Wangen läuft jeden zweiten Dienstag das Gegenprogramm: maßvoll, geruhsam , krisenfest. Ein Nachmittag beim Stricktreff.

Stuttgart - Auf dem Tisch: Gläser mit Apfelsaftschorle neben Brillenetuis und Wollknäuel. „Hannelore, hasch du mir den Rest vom Blaua?“ Das Blaue ist zu 75 Prozent Schurwolle, zu 25 Prozent Polyamid, waschbar bei 40 Grad. Daraus entsteht gerade ein Kinderwestle.

In der evangelischen Begegnungsstätte Stuttgart-Wangen treffen sich jeden zweiten Dienstag Frauen zum Stricken. Sie rücken die Tische an dem großen Fenster zusammen, ziehen den Vorhang auf, damit sie mitkriegen, was draußen so vor sich geht, und hängen sich an die Nadel.

Draußen sind Verkehrsstress und Feinstaub, Hangouts und Burnouts , Höxter und Isis. Drinnen ist Wolle. Mag draußen passieren, was will: drei, vier Strickerinnen sind immer da an den Dienstagen gegen 14 Uhr, um diesen Ort warmzuhalten. Hier läuft alles in geordneten Reihen.

Sie stricken auf den alljährlichen Basar hin

Dieses Mal sind viele gekommen: drei Witwen, drei Verheiratete, zwei Ledige. Hannelore, 83, die Chefin, hält die Fäden in der Hand. Brigitte, 82, ist am längsten dabei und immer gut für einen lässigen Spruch. Ruth, 80, „s’Ruthle“, wie sie hier genannt wird, strickt mit Gefühl und ohne viel Worte. Elfriede, 75, legt ein rasantes Tempo vor. Margot, 83, ist quasi auf Rezept hier: Nach einer Operation riet ihr der Doktor, doch mehr unter die Leute zu gehen. Das Nesthäkchen Monika, 60, kommt unter anderem, weil ihr Mann es nicht leiden kann, wenn sie dauernd strickt. Er wuchs mit einer strickenden Mutter und strickenden Schwestern auf, hat sozusagen ein Trauma. Ilse, 79, der Neuen, fehlt es noch am Elan in den Fingern. Charlotte, 72, ist dagegen eine Vollblutstrickerin. Sie will wie die meisten in der Runde nicht mit Nachnamen in die Zeitung – „und Foto muss au ned sei“.

Sie stricken auf den alljährlichen Basar hin. Nicht nur in der Begegnungsstätte. Auch daheim. Jeden Tag. Mittags während der TV-Serie. Nachts, wenn sie nicht schlafen können. Beim Basar sind vor allem preisgünstige Sachen gefragt, „darum stricken mir fast bloß Strempf“, sagt Brigitte. Viele Leute kommen extra zum Basar, um sich für den Winter mit warmen Socken einzudecken. Zum Wandern werden sie auch gern genommen. Der Trick: linksrum anziehen, oben über die Stiefel stülpen, dann sieht man von außen die gute Seite.

Draußen droht Stellenabbau im Güterverkehr. Der Dax schmiert nach einem Zwischenspurt wieder ab. Manchester United feuert van Gaal. Die Industrieländer sabotieren den Abschied von der Kohle. Der Milchpreis fällt unter 20 Cent. Drinnen ist kleine Welt. Eine erzählt von der Fahrt ins Bottwartal, eine nimmt den Faden auf und berichtet von früheren Urlauben im Bayerischen Wald. Manchmal macht eine einen Scherz, und die anderen lachen zustimmend. Oder Brigitte verkündet: „Heut isch kalt, aber i hol mein Winterkittel nemme ausm Schrank.“

Yoga fürs Gehirn

Wer ist die beste Strickerin? „Elfi“, tönt es im Chor. „Noi, noi“, sagt Elfriede. „Doch, doch.“ – Was ist am Schwierigsten zu stricken? „Die Ferse.“ Nicht alle sind einverstanden. Man einigt sich auf die Formulierung: „Wenn die Ferse gemacht ist, strickt sich der Strumpf von allein.“

Wird das Stricken nie langweilig? „Nie, das ist Yoga fürs Gehirn“, sagt Monika. „Die Gedanken laufen immer nebenbei“, sagt Charlotte. „Früher, wenn es im Geschäft Ärger gab, hab ich daheim erst mal eine halbe Stunde gestrickt zum Abreagieren“, sagt Elfriede. „Wenn ich Sorgen hab, strick ich sie in die Strempf nei“, sagt Brigitte. „Und an anderer kauft sie dann.“

Manchmal reden sie gar nichts. Dann liegt eine fast sakrale Stille im Raum und man meint, die Ulmer Straße 347 ist der Fixpunkt, um den sich der Rest der Welt hinter dem großen Fenster dreht. Nicht mal ein Klappern hört man, weil die neuen Nadeln eine Spezialbeschichtung haben.

Brigitte, die Ur-Mutter des Stricktreffs

Die Wiege der Handarbeitskunst stand in Vorderasien. Jedenfalls fanden sich Reste von Strickarbeiten aus dem zweiten Jahrhundert im Gebiet des Euphrats: gestreifte Strümpfe. Kaum jünger sind die knöchernen Stricknadeln, die dem Grab einer Thüringerin beigelegt waren.

Brigitte ist die Ur-Mutter des Wangener Stricktreffs. Sie erlebte die Anfänge vor 30 Jahren, hinten im Gemeindehaus. Den Umzug in die Kinderkrippe, schließlich in die Begegnungsstätte. Sie kennt alle Kniffe. Zum Beispiel: den Pulli vor dem Waschen in einen alten Kissenbezug, Wollwaschgang einstellen, dann verzieht er sich nicht.

Die meisten stricken seit früher Jugend. Sie wissen noch, wie man dem Enkel die Socken stopft, „da muss man nicht gleich neue kaufen“. Wie man an Pullis mit zu weitem Ausschnitt ein Bündchen dranhäkelt. „Heute gibt es ja keine Handarbeitsstunde mehr in der Schule“, sagt Hannelore.

Socken für Kobra

Nach dem Krieg blieb einem nichts anderes übrig, als Kleider selber zu stricken und zu nähen. Charlotte weiß noch, dass ihre Mutter damals den guten Bleyle-Mantel aufgezogen, den Faden dreifach genommen hat und daraus neue Pullover strickte. Ging man mit den Kindern auf den Spielplatz: Der Strickstrumpf war selbstverständlich dabei. „Heute müssen wir nicht mehr stricken, heute dürfen wir.“

Hannelore übernahm die Leitung, als Brigitte kürzer treten musste. Ihre Hauptaufgabe ist die Vorbereitung des Basars. Und: für Wollnachschub zu sorgen. Sie fährt immer zu Schachenmayr nach Salach und kauft gleich fürs ganze Jahr ein. Farbe und Muster bestimmt sie, die Strümpfe müssen sich ja gut verkaufen. Da braucht es Erfahrung: Was will der Kunde? Jedes Mal kommen um die 1000 Euro zusammen, die der Stricktreff – abzüglich des Geldes für die Wolle – „Kobra“ spendet, einem Verein, der sich um missbrauchte Kinder kümmert.

Draußen gehen Teenager vorbei, ihre Blicke auf Smartphones gerichtet. Eine junge Mutter erzieht ihre kleine Tochter: „Kommst du jetzt bitte, Tschulie!“ Drinnen sitzen Frauen, die schon viel Leben gelebt haben, ihre Blicke auf das Strickwerk gerichtet. Frauen, denen man nichts mehr erzählen muss. Die auf leichten Wogen schaukelten, in schwere See gerieten, jähe Klippen umschifften und auf dichte Nebelbänke liefen, wo die Kompassnadel ihnen vor den Augen verschwamm.

Einige haben sich für immer verabschiedet

Die Gruppe wird immer kleiner. Mit den Jahren haben sich einige für immer verabschiedet. Bärbel, eine Verbandsschwester. Wenn die eine Wut hatte, hat sie immer einen Apfelstrudel gebacken. Jetzt ruht sie in Frieden. Oder Helene, die Schals am laufenden Band strickte und immer Lindt-Schokolade mitbrachte. Ihre große Angst war, dass sie am Schluss die falsche Masche springen lässt und sich alles auflöst. Sie fehlt inzwischen auch. Eine, der Name fällt ihnen gerade nicht ein, sagte gern: „Wenn i no amol schnell weg wär. Aber pressiera tut’s net.“ Eine andere, sie strickte noch in einer anderen Gruppe, kam nur ein einziges Mal: „Vielleicht Werksspionage“, meint Brigitte.

Brigitte ist seit elf Jahren Witwe. Neun Jahre pflegte sie ihren Mann. „Mit dem Tod muss man sich abfinden, da hilft alles nichts“, sagt sie. Nachts, wenn sie wach liegt, denkt sie manchmal: „Wär i jetzt weg, wär’s nett schlimm – aber dann meldet sich der Körper und widerspricht.“ Wenn sie nur kein Alzheimer kriegt. Aber ihre Bekannten sagen, da sei sie schon drübernaus.

Ilse ist Westfälin und schon lange in Stuttgart. „Zu lange“, sagt sie. Früher arbeitete sie in der Marketingabteilung bei Daimler. Vor 14 Jahren starb ihr Mann. Sie ist jetzt zum zweiten Mal beim Stricktreff. Ob sie dabei bleibt? „Vielleicht gehe ich auch wieder zurück nach Münster.“

Ein Leben für die Handarbeit

Hannelores Leben war die Handarbeit. Als Hauswirtschaftslehrerin, Schwerpunkt Nadel, unterrichtete sie in Rottweil, Schramberg, Hechingen, Schwäbisch Hall und Ludwigsburg. Als Abteilungsleiterin musste sie alles im Griff haben.

Sie lebte immer eigenständig und ohne Mann. Interessenten gab es einige, „aber ich war wohl zu schleckig“. Anfangs habe es in einem rebelliert, dass man immer alleine ist, sagt sie. Aber oft sei es ja auch schlimmer, verheiratet zu sein. „Wenn man mal den Zustand akzeptiert, ist es in Ordnung – egal ob alleine oder verheiratet.“

Jemand für gemeinsame Konzertbesuche wäre gut. Sie fragt sich, warum sie nie eine enge Freundin hatte. „Ich glaube, es liegt daran, dass ich als junge Frau so oft umziehen musste. Da konnten keine richtigen Bindungen entstehen. Und mit der Zeit wird man vielleicht etwas selbstherrlich.“

Margot hört als erste auf

Nach der Berufslaufbahn war sie froh, zur Ruhe zu kommen. Sie ging schon mal auf Singfreizeiten in Oberjettingen oder machte eine Gruppenreise nach New York. Doch die Arbeit hat sie immer voll und ganz in Anspruch genommen. Ab und zu werden Erinnerungen in ihr lebendig, zum Beispiel wie sie als junges Mädchen wegen der Fliegerangriffe aus Stuttgart evakuiert wurde. „Die Erinnerungen beherrschen mich aber nicht. Man muss immer in der Zeit leben, in der man gerade lebt“, sagt Hannelore .

Manchmal, wenn sie abends so da sitzt, denkt sie darüber nach, was alles kommen mag. Ob sie irgendwann ihre Eigentumswohnung verlassen und ins Heim ziehen muss. Wie viel Zeit ihr überhaupt noch bleibt. „Ein seltsamer Gedanke, einmal nicht mehr da zu sein, sich von sich selbst verabschieden zu müssen.“ Was soll man sich wünschen? Ein schnelles Ende? Die Selbstkontrolle zu verlieren ist gar kein guter Gedanke für Hannelore. „Aber ich habe keine Angst. Ich habe immer allem fest und gelassen ins Auge gesehen. Das ist meine Natur.“

Margot hört als erste auf. Dann Ilse. Nach und nach legen die Frauen ihre Nadeln beiseite. Manche haben keine Lust mehr, manchen tut die Schulter weh, oder die Finger werden pelzig. „Stricken ist gut für die Feinmotorik“, sagt Brigitte. „Viele Alte haben die Hände voller Gnubbel, wir nicht.“ Nach zweieinhalb Stunden wird aufgeräumt: „S’isch elles a Weile schee.“