Die US-Autorin Joyce Carol Oates hat mit „Der Mann ohne Schatten“ einen spektaktulären Liebesroman geschrieben. Foto: dpa

Die US-Autorin Joyce Carol Oates legt zu ihrem 80. Geburtstag ein neues Werk vor. Sie fragt in dem Roman „Der Mann ohne Schatten“, wie es einem Mann ergeht, der stets nach 70 Sekunden vergisst, was gerade geschehen ist – und ob eine Frau solch einen Kranken dennoch lieben kann.

Stuttgart - Z eitgenössischen Autoren wird gelegentlich vorgeworfen, sich mit dem Kleinklein des Alltags zu begnügen. Für Joyce Carol Oates gilt das nicht. Die 1938 im US-Staat New York geborene Schriftstellerin, die an diesem Samstag ihren 80. Geburtstag feiert, liebt die großen Themen. Begehren, Liebe, Hass, Gewalt, Wahnsinn und Gesellschaft. Putzfrauen, Plantagenarbeiter und überforderte Lastwagenfahrer sind ihre verzweifelten Helden ebenso wie Amerikas missbrauchte Ikone Marilyn Monroe. In „Blond“ erzählte sie von sexuellen und emotionalen Verstrickungen, spielte mit Voyeurismus, den sie aber dann doch nicht bediente. Lebens- und sterbensprall sind ihre Texte, unterhaltsam, gelegentlich allzu plauderig.

Nach 70 Sekunden alles vergessen

Das Spektakuläre mögen sollte man als Leser des jüngsten Romans „Der Mann ohne Schatten“. In der Mythologie gilt der Schatten als Spiegel der Seele, und wer keinen hat, ist dann: ein Dämon? Das nun nicht, Oates schreibt keinen Mystery-Roman. Die Wissenschaftlerin Margot Sharpe, gerade mal 24 Jahre jung, begegnet zu Beginn ihrer Karriere dem knapp 40-jährigen Elihu Hoopes, der nach einer Hirnkrankheit an unheilbarer Amnesie leidet und nur noch Dinge erinnert, die sich vor seiner Erkrankung zugetragen haben. Alles, was seitdem geschieht, speichert sein Gehirn nicht länger als 70 Sekunden. Margot macht Karriere mit der Erforschung des Falls und verliebt sich in den gebildeten, gut aussehenden Mann.

Die Erzählerin stellt zwei Fragen. Kann man so einen Mann lieben? Beutet man solch einen Menschen aus, wenn man sein Leiden jahrzehntelang wissenschaftlich erforscht und er doch nichts davon wirklich weiß? Als wäre das nicht genug, kombiniert Oates die Geschichte mit einer Art Krimi. Elihus Cousine ist als Kind unter mysteriösen Umständen gestorben, er erinnert sich nur bruchstückhaft daran, immer wieder erfährt der Leser einige Details, ein smarter Kniff, um Spannung zu erzeugen. Denn in der Beziehung des Paars tut sich wenig. Durch den mysteriösen Tod des Mädchens fragt sich der Leser nicht nur, ob Elihu doch noch genesen könnte. Er will auch wissen, ob Elihu etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun hat. Oates ist eine kluge Erzählerin, sie macht Andeutungen, erzählt zumeist aus Margots Perspektive, gelegentlich aus der von Elihu. Sie gibt aber keine Antworten, das Bewerten überlässt sie den Lesern. Sie schildert ebenso Margots Skrupel, sich Elihu zu nähern, und das körperliche Begehren zwischen dem ungleichen Paar. Dies mit einer sprachlichen Wucht, die vermuten lässt, dass die Autorin ihre Leser auch zu ihrem nächsten runden Geburtstag wieder mit einem Werk versorgen wird.

Margots Seelenleben

Oates ist eine kluge Erzählerin, sie sagt nicht ja oder nein, macht Andeutungen, erzählt zumeist aus Margots Perspektive, gelegentlich auch aus der von Elihu. Sie gibt aber keine Antworten, das Bewerten überlässt sie den Lesern. Margots Seelenleben wird zergliedert, ihre emotionale Abhängigkeit auch von ihrem wissenschaftlichen Mentor: „ein bisschen beschämend ist es für Margot schon, wie sehr sie für Milton Ferris’ Lob – Gute Arbeit, Margot! – lebt, für ein Murmeln, als streichle er ihren Körper“. Oates schildert ebenso wie Margots Skrupel, sich Elihu zu nähern und das körperliche Begehren zwischen dem ungleichen Paar. Und dies mit einer sprachlichen Wucht, die einen vermuten lässt, dass die Autorin ihre Leser auch zu ihrem nächsten runden Geburtstag wieder mit einem Werk versorgen wird.

Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten. Übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt. 378 Seiten. 24 Euro