Nicht mehr auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden: Stephan E., Beschuldigter im Mordfall Lübcke. Foto: dpa

Im Kampf gegen rechts hat der Verfassungsschutz viel Glaubwürdigkeit verloren. Jetzt wäre Zeit für Aufklärung, meint unsere Kolumnistin Katja Bauer.

Berlin - Knapp zwei Wochen ist es her, dass in Halle ein Rechtsextremist versuchte, so viele Juden wie möglich zu töten. Der Anschlag auf die Synagoge wird nun als furchtbare Zäsur verstanden. Er ist allerdings keine Überraschung. Dieses Attentat war die nächste Stufe einer sich seit Jahren vollziehenden Eskalation. Terror von rechts ist keine Ansammlung von Einzelfällen durch Einzeltäter. Er ist ein Angriff auf dieses Land. Das ist nicht die Einschätzung von Alarmisten, sondern die der Sicherheitsbehörden. Leider verbinden sie diese Erkenntnis mit einer weiteren: Es gelingt ihnen fachlich und personell derzeit nicht, die akute Gefahr im Griff zu haben. Dieses Eingeständnis führt zu einem bitteren Rückschluss. Die Verantwortlichen haben in der Vergangenheit die Chance verpasst, die Szene stärker unter Druck zu setzen. Das hätte Schlimmes verhüten können.

Sicher ist es immer wohlfeil, solche Kritik zu üben, nachdem die Katastrophe sich ereignet hat. Hier liegen die Dinge allerdings etwas anders: Die Katastrophe hat schon lange vor Halle begonnen, sich zu ereignen, und sie dauert an. Vor acht Jahren enttarnte sich die neonazistische Terrorgruppe NSU selbst – und das nicht, weil der Ermittlungsdruck zu groß wurde. Die Behörden waren ahnungslos. Seitdem wird nicht nur versucht, diese Terrorserie, ihre Hintergründe und ihr Umfeld juristisch und politisch aufzuklären. Die Aufklärung wird zugleich auch immer wieder verhindert. Das fing 2011 damit an, dass systematisch Akten geschreddert wurden. Es dauert bis heute an, wie die jüngsten Folgen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten durch den eingefleischten Neonazi Stephan E. zeigen.

Was wusste der Verfassungsschutz?

Denn schon wieder entsteht der Verdacht, dass der Verfassungsschutz Verbindungen zumindest besser kannte, als er zugibt – und womöglich keine Schlüsse daraus zog. 120 Jahre lang soll der Untersuchungsbericht des hessischen Verfassungsschutzes zum NSU geheim bleiben. Darin geht es um das Netzwerk, das den NSU stützte und das in Teilen offenkundig bis heute existiert. Nur weil die „Welt“ auf Auskunft klagte, weiß die Öffentlichkeit inzwischen, dass Stephan E. im NSU-Bericht elfmal erwähnt wird (und in der Zusammenfassung, den die Abgeordneten des Landtags zu sehen bekamen, gar nicht). Es ist genau jener vielfach vorbestrafte Stephan E., über den der Verfassungsschutz nach dem Mord an Lübcke sagte, die Behörden hätten ihn seit Jahren nicht mehr auf dem Schirm gehabt.

Das an sich ist schon erklärungsbedürftig. Aber die Zahl der Merkwürdigkeiten wächst. Im hessischen Innenausschuss kam jetzt eine davon auf den Tisch.Andreas Temme, ehemaliger Verfassungsschützer, war mit dem mutmaßlichen Mörder Lübckes mehrfach „dienstlich befasst“. Temme, das war genau jener Beamte, der 2006 zur Tatzeit im Internetcafé in Kassel saß, als der NSU dort Halit Yozgat erschoss. Inzwischenfand er einen Job in Lübckes Regierungspräsidium. Es ergeben sich viele Fragen aus diesen Umständen – unter anderem die, durch wen und weshalb der Verfassungsschutz zu der Einschätzung gelangte, dass der spätere Mörder Lübckes nicht mehr zu beobachten sei. Der Verfassungsschutz hat mit dem NSU viel Glaubwürdigkeit verloren. Jetzt wäre höchste Zeit für Aufklärung.

Vorschau In der nächsten Woche lesen Sie an dieser Stelle eine Kolumne von Sibylle Krause-Burger.