Etwa jeder achte Abgeordnete hat eine Migrationsgeschichte – so wie Michael Joukov-Schwelling, der sich für Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion einsetzt und eine klare Haltung zum Nahost-Konflikt vertritt.
Stuttgart/Ulm - Zehn Jahre habe es gedauert, bis sich die Menschen an ihn gewöhnt hatten, sagt Michael Joukov-Schwelling. Ein grüner Kommunalpolitiker mit osteuropäischem Akzent – das habe manche ebenso provoziert wie seine Religion, das Judentum. Auch wenn er sich bei den meisten willkommen gefühlt habe: „Es gab die ersten Jahre böse Kommentare und Briefe“, sagt der 39-Jährige, der nun erstmals auch Mitglied des Landtages ist. „Heute ist es selbstverständlicher, dass Menschen mit Migrationsgeschichte in der Politik aktiv sind“, sagt Joukov-Schwelling. War er im Ulmer Gemeinderat 2004 das einzige Mitglied mit Wurzeln im Ausland, seien sie heute zu fünft im 40-köpfigen Stadtparlament, so der Diplom-Ökonom, der eine IT-Firma hat.
Tatsächlich hat sich in dieser Hinsicht auch auf Landesebene etwas getan: Wie die Ergebnisse einer Umfrage unserer Zeitung unter den 154 Abgeordneten des neuen Landtags zeigen, haben mindestens 13 Prozent von ihnen eine Migrationsgeschichte, sind also nach Deutschland zugewandert oder haben Eltern, die aus einem anderen Land stammen. Im Vergleich zum vorangegangenen Parlament, für das der Mediendienst Integration fünf Prozent Abgeordnete mit Migrationshintergrund ermittel hatte, hat sich ihre Zahl damit mehr als verdoppelt. Außerdem zeigt die Umfrage, dass die Mehrheit Wurzeln im süd-, mittel- und osteuropäischen Raum hat. Daneben gibt es Abgeordnete mit Eltern aus der Türkei, dem Libanon und den USA. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung im Land, in der jeder dritte Migrationshintergrund hat, ist der Anteil im Parlament allerdings immer noch gering.
Nur jeder zehnte Migrant engagiert sich politisch
Die Frage, wie Politik vielfältiger werden kann, beschäftigt die Forschung. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration hat 2020 eine Studie veröffentlicht, in der Menschen mit Migrationshintergrund zu ihrem politischen Engagement befragt wurden. Das Ergebnis: Nur jeder zehnte von ihnen engagiert sich politisch, indem er zum Beispiel Petitionen unterstützt, an politischen Diskussionen oder Demonstrationen teilnimmt oder in einer Bürgerinitiative oder Partei mitarbeitet. Greift man nur die Nachkommen von Zugewanderten heraus, also die zweite Generation, so erhöht sich der Anteil der politisch Aktiven auf gut 21 Prozent und liegt damit fast genauso hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund, von denen sich jeder Vierte engagiert. Ein Ergebnis, dass sich auch mit den Befunden unserer Zeitung deckt: Von den 20 Abgeordneten, die einen Migrationshintergrund angeben, stammt der Großteil aus der zweiten Generation.
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Ein weiteres Ergebnis der Studie des Sachverständigenrates: Ob sich jemand politisch engagiert, hängt auch davon ab, ob er Mitglied in Sport- oder Kultur-Vereinen oder gewerkschaftlich aktiv ist. Das sei eine Art Vorfeld zur Politik, in dem Amtsträger und Parteien Nachwuchs finden könnten. An diese richtet die Studie den klaren Auftrag, nicht darauf zu warten, dass Migranten zu ihnen kommen, sondern auf diese, auch programmatisch zuzugehen.
Drei AfD-Abgeordnete haben Migrationshintergrund
In den einzelnen Parteien sind Abgeordnete mit Migrationshintergrund unterschiedlich stark vertreten. Die meisten finden sich bei den Grünen, unter ihnen der Großteil derer mit Wurzeln außerhalb Europas. Einen hohen Anteil hat auch die AfD, drei der 17 Abgeordneten haben eine Migrationshintergrund. Ihre Wurzeln liegen in Rumänien, Kasachstan und Italien. Den geringsten Anteil hat mit fünf Prozent die FDP.
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Michael Joukov-Schwelling glaubt, dass mehr Migranten im Landtag auch für vielfältigere Themen sorgen können. Zwar haben seine Schwerpunkte – Verkehr und Umwelt – nichts mit seiner Herkunft zu tun, aber: „Ich fühle mich der Community aus der ehemaligen Sowjetunion verpflichtet und will Ansprechpartner für sie sein“, sagt Joukov-Schwelling. Auch religiöse Vielfalt sei im Parlament wichtig, sagt er. Zusammen mit einem muslimischen und einer alevitischen Abgeordneten gehört Joukov-Schwelling zu den wenigen Nichtchristen und ist der einzige Jude im Parlament.
Isreal habe das Recht, sich zu verteidigen
Auch wenn er seine Religion nicht praktiziere, fühle er sich den jüdischen Gemeinden, aber auch den Menschen in Israel verbunden, sagt Joukov-Schwelling. Kürzlich pochte er bei einer Kundgebung auf das Recht Israels, sich gegen die Angriffe der Hamas zu verteidigen und mahnte vor dem zunehmenden Antisemitismus hierzulande, der sich häufig als Israel-Kritik tarne, und dem man auch mit Aufklärung begegnen könne. „Viele, die antisemitische Vorurteile haben, haben noch nie persönlich einen Juden getroffen“, sagt Joukov-Schwelling. Mit seiner landespolitischen Präsenz will er dazu beitragen, das zu ändern.
Dieser Artikel ist Teil unserer Serie „Der neue Landtag“. Grundlage sind die Ergebnisse einer Umfrage, die unsere Zeitung unter allen 154 Abgeordneten durchgeführt hat. Darin wurde nach Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Beruf und Kinderzahl gefragt. In loser Folge veröffentlichen wir vertiefende Artikel dazu. Hier finden Sie alle Ergebnisse unsere Umfrage.