Oppositionelle aus Überzeugung: Andrej Nawalny, Maria Kolesnikowa und Wolodymyr Selenskyj. Foto: Ki/Midjourney, Fotos: imago

Regimekritiker und proeuropäische Politiker in Osteuropa kämpfen gegen den russischen Totalitarismus. Im Westen betrachtet man ihren Kampf oft mit Argwohn. Warum?

Als der Schriftsteller Jürgen Fuchs 1977 aus der DDR ausgebürgert wurde, setzte ihm eines am meisten zu: die Gleichgültigkeit des Westens. Neun Monate hatte er im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen verbracht; die Offiziere der Staatssicherheit versuchten, ihn mit Schlafentzug, Drohungen, Demütigungen und langen Verhören psychisch zu brechen. „Herausschreien“ wollte er, was er dort erlebt hatte, erinnerte sich Fuchs 1991 in einem Essay für „Die Zeit“. Aber das Interesse an dem Unrecht, das hinter der Mauer im anderen Deutschland geschah, war nur gering.

 

Schließlich passiere ja auch in anderen Ecken der Welt allerhand, musste er sich anhören. Es sei schon so viel darüber berichtet worden und es würde sich ja eh nichts ändern. Und hätten sich nicht auch viele DDR-Bürger in diesem Staat ganz gut eingerichtet? Die Dissidenten, das sei doch nur eine Minderheit ohne Einfluss. Naive Einzelgänger im Kampf für völlig unrealistische Ziele.

Ein halbes Jahrhundert, einen Mauerfall und gut ein Dutzend mehr oder weniger friedliche Revolutionen später, hat sich an dieser Haltung gegenüber Freiheitsbewegungen im Osten Europas wenig geändert. Die Skepsis nimmt sogar gerade wieder zu: Blickte die deutsche Öffentlichkeit Anfang der 2000er Jahre noch mit einer gewissen Sympathie auf die Proteste, mit denen die Menschen in ehemaligen Ostblock-Staaten alte Strukturen abschüttelten – auf den Sturz von Slobodan Milošević in Serbiens „Bulldozer-Revolution“ im Herbst 2000, auf die „Rosen-Revolution“ Michail Saakaschwilis in Georgien 2003, auf die „Orangene Revolution“ in Kyjiw 2004 und die „Tulpen-Revolution“ in Kirgisistan 2005 – ist diese Sympathie längst in Katerstimmung umgeschlagen: Es ist nicht alles besser geworden in diesen Staaten, auch die neuen Regierungen waren – Überraschung! – nicht perfekt und haben Fehler gemacht.

Wladimir Putins Deutung, wonach der Westen mit den sogenannten „Farbrevolutionen“ nur Unruhe in die Region brachte, trifft mittlerweile auch hierzulande auf viel Verständnis. Also lasst uns bitte künftig mit dergleichen in Ruhe! Wohlgemerkt: Nicht Korruption und Autoritarismus stellen in dieser Lesart eine Bedrohung für den Frieden dar, sondern die Störung dieser vorgeblich natürlichen Ordnung aus Autoritarismus und Korruption. Seit Putin Raketen und Panzer schickt, um den Abwehrkampf der Ukrainer gegen die Bevormundung aus Moskau niederzuschlagen, wird erst recht die Frage gestellt: War es das wert? Hätte sich Kiew nicht besser gefügt? Wären die Demonstranten auf dem Maidan im Winter 2013 nicht besser nach Hause gegangen, statt sich der Gewalt der Berkut-Polizisten entgegenzustellen? Müssen wir uns jetzt wirklich noch für Belarus interessieren oder für jene Massenproteste in Serbien und Georgien, die mittlerweile seit über einem Jahr andauern? Europa könnte wie früher sein – mit ein paar Unrechtsregimen im Osten, aber stabil. So, wie wir es seit dem letzten Krieg gewohnt waren.

Das russische Imperium war nie stabil

Ruhe und Stabilität, das wird dabei gern vergessen, gab es derweil höchstens auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs. Seit Stalins Tod verging kein Jahrzehnt ohne Aufruhr in der Sowjetunion selbst oder Massenproteste in ihrem Orbit. Angefangen bei der Revolte der Häftlinge im Gulag von Norilsk 1953, über den 17. Juni in der DDR im selben Jahr, den Posener Aufstand im Juni und den Ungarn-Aufstand im November 1956, bis zum Prager Frühling 1968, den Arbeiterprotesten in Polen 1970 und 1976 und der sich daraus entwickelnden Solidarność-Bewegung der 80er Jahre.

Tausende verloren bei diesen Aufständen ihr Leben, erschossen von Milizionären oder niedergewalzt von sowjetischen Panzern. Noch mehr wurden für Jahre eingesperrt. Trotzdem spielen diese Freiheitskämpfer in der deutschen Erinnerung kaum eine Rolle. Welcher Schüler kann heute etwas mit dem Namen Rudi Schwander anfangen? Die Kugel eines Volkspolizisten tötete den 14-Jährigen am 17. Juni 1953 bei Protesten in der Rheinsberger Straße in Berlin. Aber den Tag der Deutschen Einheit begehen wir nicht mehr am Jahrestag dieses Ereignisses, sondern am 3. Oktober – dem Datum, an dem die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat – und fast so formelhaft laufen die Feierlichkeiten dazu ab.

Wenn wir von der Wende sprechen, überstrahlt die Figur von Michail Gorbatschow alles: der Generalsekretär der KPdSU, der „uns die Einheit geschenkt hat“. Freiheit als Geschenk der Obrigkeit statt als ein von Generationen unter Opfern erkämpftes Gut.

Gorbatschows zwiespältige Bilanz

Das wird östlich der deutschen Grenzen ganz anders gesehen. In jeder polnischen Stadt gibt es öffentliches Gedenken für die Opfer der Unterdrückung. Die osteuropäischen Demokratien sehen sich in der Tradition dieser Helden, die oft ihr eigenes Leben geopfert haben in der Hoffnung, dass künftige Generationen in Freiheit leben können. Und im Baltikum erinnern sich die Menschen sehr gut daran, dass Gorbatschow noch im Januar 1991 die Unabhängigkeitsbewegungen in Litauen und Lettland nach altem Muster mit Waffengewalt niederschlagen lassen wollte. Es gab mehr als ein Dutzend Tote und Hunderte Verletzte. Das soll die Rolle Gorbatschows bei der Überwindung der Blockkonfrontation und der Teilung des Kontinents nicht schmälern. Aber es fällt auf, wie viel nachsichtiger die Deutschen mit den Herrschenden umgehen, seien sie kommunistische Parteisekretäre oder kleptokratische Diktatoren mit revanchistischer Agenda. Mildernde Umstände werden schnell gefunden; Zwänge, wie etwa die Aufnahme neuer Staaten in das Verteidigungsbündnis der Nato, die einem Wladimir Putin nach diesem Verständnis gar keine andere Wahl ließ, als Wohnhäuser, Elektrizitätswerke und Geburtskliniken in der Ukraine zu bombardieren.

Gleichzeitig werden an die Gegner dieser Regime Maximalforderungen gestellt. Nur die Besten und Reinsten haben unsere Solidarität verdient! In der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung spielt auch der Islam eine Rolle? Bereitwillig folgen viele Putins Deutung der Tschetschenienkriege als Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Alexej Nawalny hat sich abwertend über Menschen aus Zentralasien und dem Kaukasus geäußert, als seine politische Karriere noch in den Kinderschuhen steckte? Er musste bis ans Ende seiner Tage immer neu beweisen, dass er nicht ein noch schlimmerer Chauvinist ist als Putin; selbst als er längst viele Anhänger im Kaukasus hatte.

In Kiew schließen sich 2013 auch gewalterfahrene Hooligans und Vertreter des „Rechten Sektors“ den Selbstverteidigungsgruppen der Maidan-Demonstranten an? Manche geben den Faschismus-Vorwurf gegen die Ukrainer selbst dann nicht auf, als die Rechtsextremen bei der Parlamentswahl mit einstelligem Ergebnis durchfallen und das Land einen jüdischen Präsidenten und dazu noch einen muslimischen Verteidigungsminister bekommt.

Nur wer sich seine Freiheit nie selbst erkämpfen musste, wird von anderen erst ein sauberes Führungszeugnis und ein Diplom in Gesellschaftskunde einfordern, bevor er sie als legitime Streiter gegen Unterdrückung akzeptiert.

Besonders empfindlich reagieren wir Deutschen, wenn nationalistische Motive in Widerstandsbewegungen eine Rolle spielen. Dabei hatte der Nationalismus in der Geschichte Osteuropas nicht die expansiv-aggressive Prägung wie in Deutschland. Für Polen, Tschechien, Ukrainer, Ungarn, Serben war das Nationalbewusstsein Triebfeder der Emanzipation gegen die Fremdherrschaft. Während die deutsche Einigung 1871 durch Krieg und preußische Machtpolitik von oben vollzogen wurde, entstand in vielen osteuropäischen Ländern der Nationalstaat von unten – durch Revolutionen und Aufstände. Als nach dem Ersten Weltkrieg das Zarenreich, die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich zerfielen, schien die Freiheit nah. Nur zwei Jahrzehnte später gerieten diese Länder wieder unter Fremdherrschaft – erst durch das NS-Imperium, dann durch das Sowjetische Imperium.

Ein ironischer Trinkspruch unter sowjetischen Dissidenten lautete: „Auf den Erfolg unserer aussichtslosen Sache!“ Diesen Frauen und Männern war klar, wie gering ihre Chancen waren, wie träge, verblendet und eingeschüchtert die Massen. Aber ihr Gewissen ließ ihnen keine andere Wahl. Mit derselben Begründung erklären heute Kriegsgegner in Russland, warum sie lieber ins Gefängnis gehen, als zu schweigen. Das kann man heldenhaft nennen oder unvernünftig. Vernünftig wäre dann, sich in der Diktatur anzupassen und still zu halten. Solange das alle tun, gibt es keine Veränderung und keine Zukunft. Doch sobald man die Perspektive weitet, kann es rational sein, heute Kosten auf sich zu nehmen, damit die eigenen Kinder in Freiheit und Würde leben können.

Denken wir an künftige Generationen?

Vor demselben Dilemma stehen wir übrigens auch in anderen Kernfragen unserer Zeit, bei denen Veränderung überfällig ist, aber nicht gratis – beim Klima etwa oder beim Sozialstaat: Sind wir bereit, heute Kosten auf uns zu nehmen, um das Leben künftiger Generationen in Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit zu ermöglichen?

Lange taten sich die Deutschen schwer damit, Solidarität mit Widerstandsbewegungen in der Ukraine, in Belarus, in Georgien zu zeigen, weil sie sich in deren Kampf nicht wiedererkannten. Das ändert sich mit der neuen Bedrohungslage. Seit russische Drohnen über deutschen Flughäfen kreisen, wird immer mehr Menschen hierzulande klar, dass auch wir um die Frage nicht herumkommen, welchen Preis wir bereit sind, für unsere Freiheit zu bezahlen. Vielleicht ist dies der Moment, um von den Erfahrungen der osteuropäischen Völker zu lernen. Etwas mehr vom Geist der Selbstbehauptung, etwas mehr Zuversicht im Angesicht der Bedrohung, etwas mehr vom Denken über Generationen und von der Treue zu den eigenen Werten könnte Europa gut gebrauchen.