Der Industriellensohn Henri Oedenkoven (links) beim rhythmischen Ausdruckstanz. Foto: dpa//Fondazione Monte Verità

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besiedelten ein paar Aussteiger den Monte Verità bei Ascona. Auf dem „Berg der Wahrheit“ wurden sie zu Ahnen der Öko-Bewegung.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert entstanden als Reaktion auf den rasenden Fortschritt neue Ideen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern oder gar zu revolutionieren. „Lebensreform“ nannte man die vielgestaltige Suche nach einem alternativen Leben, frei von gesellschaftlichen Normen und jenseits bürgerlicher Konventionen.

Nach Wegen in eine alternative Zukunft suchten anno 1899 auch jene drei jungen Aussteiger, die sich bei Wasser-Luft-Licht-Therapien in der Naturheilanstalt Mallnerbrunn des Schweizer „Sonnendoktors“ Arnold Rikli im oberkrainischen Veldes kennengelernt hatten: Henri Oedenkoven, Sohn einer Industriellenfamilie aus Antwerpen; die Münchner Pianistin und Feministin Ida Hofmann und Karl Gräser, ein habsburgischer Offizier, der den Dienst quittierte, weil er den Drill zutiefst verachtete.

Der Traum: Frei von allen Zwängen

Bei reinigenden Luftbädern entdeckten die abgespannten Städter, dass sie ein Anliegen verband: ein Leben im Einklang mit der Natur und mit sich selbst, frei von allen Zwängen, welche die Zivilisation auferlegt.

Frei von Arbeit, Pflicht, Besitz – und einengender Kleidung. Bevor sie auseinandergingen fassten sie einen Beschluss: Sie wollten nach Süden gehen, um in der Abgeschiedenheit der Bergwelt ein neues, naturnahes und klassenloses Leben fernab vom Materialismus der Metropolen zu beginnen.

Im Herbst 1900 machten sich die Lebensreformer von München aus zu Fuß auf über die Alpen und fanden nach längerer Suche ein Objekt, wo sie sich ihren Traum vom alternativen Leben erfüllen wollten.

Zu ihnen gesellten sich Hofmanns Schwester Jenny, eine Opernsängerin, und Gräsers Bruder Gustav, ein Maler und Lebenskünstler, sowie Charlotte Hattemer, eine Berliner Lehrerin, die, um ihrem bourgeoisen Elternhaus zu entfliehen, als Kellnerin in einer Hamburger Hafenkneipe gearbeitet hatte.

Den Ort zum wahren Sein fanden sie auf einem verwilderten Weinberg am Lago Maggiore oberhalb von Ascona, den sie Monte Verità, „Berg der Wahrheit“, nannten. Dort gründeten sie ihr alternatives Siedlungsprojekt.

Freikörperkultur als Zivilisationskritik

Im Spätsommer 1900 entstand hier eine „vegetabilische Cooperative“, die Gesundheit und ein neues Lebensgefühl versprach. Der enge Kontakt zur Natur war Teil einer esoterisch geprägten Therapie, durch die Aussteiger von den Leiden der Zivilisation geheilt werden sollten.

Dazu gehörte auch die Freikörperkultur als radikalster Ausdruck lebensreformerischer Zivilisationskritik am prüde zugeknöpften Kaiserreich. So, wie die Natur sie schuf, sollen sich die Bergbewohner neu erfinden und ein naturgemäßes Leben führen.

In der Praxis hieß das: strenge Rohkostnahrung, Lichtluftkuren, Sonnenbäder, Gartenarbeit im Adamskostüm und ein Leben in minimalistischer Selbstgenügsamkeit. Ein Ideal, das der Kommunarde Gustav Gräser bis ins Extrem zelebrierte. Unter einfachsten Bedingungen lebte er mit seiner Gattin auf dem Hügel, stellte Alltagsgegenstände, Nahrung und Kleidung selbst her und lehnte Maschinen ebenso wie Geld ab.

Der Monte Verità wurde zum Anziehungspunkt für Denker und Träumer, Künstler und Lebenskünstler, Idealisten und Weltverbesserer – sie alle suchten in der Abgeschiedenheit der Tessiner Berge nach alternativen Lebensformen.

Im Laufe der Zeit wurde aus einer Hippiekolonie leicht bekleideter Idealisten ein Sanatorium mit einfachen Holzhütten, sogenannten Licht-Luft-Hütten, in denen zivilisationsgeschädigte aller Couleur bei Rohkost und Nüssen zu sich selbst finden konnten: stressgeplagte Städter, die in freier Natur nach Entschleunigung suchten, fortschrittsmüde Intellektuelle, denen die kapitalistische Moderne zuwider war, sinnsuchende Esoteriker, die den Zwängen der Zivilisation und dem obrigkeitsstaatlichen Mief des Kaiserreichs entfliehen wollten.

Der dauerhafte Aufenthalt war nur für Hartgesottene

Darunter namhafte Persönlichkeiten wie Hermann Hesse, Gerhard Hauptmann, die Puppenmacherin Käthe Kruse, die Malerin Marianne von Werefkin, der Berliner Anarchist Erich Mühsam oder der österreichische Psychoanalytiker Otto Groß, der dort seine Drogensucht kurieren und dessen Bewohner von der freien Liebe überzeugen wollte.

Unter freiem Himmel ließen die Gesundheitsapostel die Kräfte der Natur auf sich wirken, nahmen ausgedehnte Sonnenbäder und Kaltwasserduschen, ertüchtigten sich textilfrei an Turngeräten oder wiegten sich hüllenlos im harmonischen Ausdruckstanz unter der Leitung des Choreografen Rudolf von Laban.

Die meisten Besucher blieben nur für eine bestimmte Zeit, da ein dauerhafter Aufenthalt nur etwas für hartgesottene Idealisten war. Das lag mitunter an den radikalen Ernährungsvorschriften, die Ida Hofmann den Kommunarden verordnete.

Tierische Produkte wie Milch, Eier und Fleisch waren ebenso tabu wie Alkohol. Die Veggie-Pionierin war der Ansicht, dass fleischlose Kost aus Getreidebrei, Vollkornbrot und Obst den Körper entgiften und den Geist erfrischen sollte. Zudem erhoffte sich die bekennende Feministin von einem Fleischverzicht die Befreiung der Frau und das Ende der patriarchalischen Gesellschaft.

So mancher Gast, der gekommen war, um den eigenen Körper zu entdecken, merkte bald, dass die Lebensform der Monteveritaner für ihn doch keine Alternative war. Anfängliche Euphorie wich bald Ernüchterung.

„Es war schauderhaft“

Mühsam, der 1904 dazustieß, war die karge, einseitige Kost dieser „Kohlrabijünger“ ein Graus. „Von früh bis spät kaute ich Äpfel, Pflaumen, Bananen, Feigen, Wal-, Erd- und Kokosnüsse. Es war schauderhaft“, schrieb er später in seinen Erinnerungen.

Nicht anders erging es Hesse, der 1907 zu einer Alkoholentziehungskur auf den Berg der Entsagung kam, und vom Nacktbaden in der Natur und von neuen, angeregten Gefühlen schwärmte. Doch bald kam der Literat zu dem Schluss, dass Landluft eben doch nicht frei macht, sondern „die psychische Abhängigkeit von der Natur den Geist verdumme“.

Die Utopie hielt knapp zwei Jahrzehnte, dann löste sich das lebensreformerische Experiment auf dem Monte Verità auf. Was blieb, war die emanzipatorische Wirkung dieser „ersten modernen Gegenkultur“, die alternative Lebensweisen vorwegnahm. Vom Ökolandbau über Nachhaltigkeit bis hin zu veganer Ernährung und dem Trend zum Minimalismus als Reaktion auf die Überflussgesellschaft. Aber auch die Ursprünge von Wellness, Freikörperkultur und Fitness lassen sich auf dem Berg der Alternativkultur finden.