Pferd und Mensch Foto: dpa

Faktenreich, anspruchsvoll und stets unterhaltsam beleuchtet Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, in seinem aktuellen Buch das vielschichtige Verhältnis zwischen Mensch und Pferd.

Stuttgart - „Nationen“, schreibt Ulrich Raulff, „werden nicht nur von Heiligen und Helden geformt, sie werden auch von Tieren erzogen, sie brauchen ein Totem, in dem sie sich finden.“ Raulff ist Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, sein Buch über das Nachleben Stefan Georges erhielt vor fünf Jahren einen Preis der Leipziger Buchmesse. Nun hat er sich dem Pferd zugewandt: Die Erinnerung an eine dörfliche Kindheit in Nordrhein-Westfalen wird für ihn zum Ausgangspunkt einer Geschichtsschreibung aus ungewöhnlichem Blickwinkel. Denn das Pferd war immer schon da, begleitete den Menschen, war Nutztier, Projektionsfläche, Fetisch, Gegenstand sehr spezieller Wissenschaften, ein Motor der Geschichte, des Krieges, der Fortbewegung, Freund und Sklave der Menschheit.

Raulff forscht dem nach und ordnet seine Analysen und Anekdoten drei großen Bereichen unter: das Pferd als reine Kraft, als Energie und als Gegenstand verzweigten Wissens, das dicke Bände und Bibliotheken füllt. Dann als Symbol, auf dem der Weltgeist reitet und dem Philosophen sich um den Hals werfen. Schließlich als ein Traum, der durch die Kunstgeschichte und die Mädchenbücher geistert. Raulff schreibt von Entwicklungen der Reittechniken, der Eroberung Amerikas, von Anatomen, welche die Pferde zergliederten, sowie von Enthusiasten, die ihnen das Sprechen beibringen wollten.

Gelehrt ist das immer, sehr faktenreich und voller Theorie, zugleich auf eine sehr anspruchsvolle Weise auch unterhaltsam – denn Raulff schreibt nicht akademisch, er liebt es zu erzählen, Zeiten und Szenen heraufzubeschwören. Humor und Gefühle spielen ebenso eine große Rolle, etwa bei seinem Versuch, das Pferd einzufangen und zugleich zu befreien. Raulffs Panorama reicht von den Bildern der Westernfilme bis zu jenen van Goghs und Picassos, von den Enzyklopädien der Pferdenarren, den Romanen Tolstois und Flauberts bis zu einer Miniatur Franz Kafkas. Zuletzt steht das Pferd da als eine große und empathische Gestalt, die, kaum bemerkt, vom Menschen Abschied genommen hat. Und wenn Raulff fragt, wie lange der Mensch wohl noch in der Lage sein wird, die Konturen eines Pferdes in den unscheinbaren Überresten seines Zeitalters zu erkennen, bis auch dieses verschwindet, ist leise Trauer spürbar.