Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, machen sich viele DDR-Bürger auf den Weg in den Westen – einige BRD-Bürger reisen in die entgegengesetzte Richtung. Der Stuttgarter Fotograf Thomas Hanisch ist einer von ihnen.
Stuttgart/Berlin - Vom Mauerfall in Berlin höre ich erstmals um 20 Uhr in der „Tagesschau“. Es ist Donnerstag, der 9. November 1989. Um 18.50 Uhr hat Günter Schabowski in Ostberlin die neue Reiseregelung bekannt gegeben. Auf die Frage eines Journalisten, wann die Regelung in Kraft treten soll, antwortet er: „Ab sofort, unverzüglich!“ Eine Viertelstunde später verbreitet die Nachrichtenagentur AP die Eilmeldung: „DDR öffnet die Grenze.“
Weit offen
Und nun also die „Tagesschau“, die ja auch von vielen DDR-Bürgern gesehen wird. Dies trägt sicherlich mit dazu bei, dass die einmal begonnene Fahrt in Richtung „Grenzöffnung“ eine nicht mehr umkehrbare Eigendynamik erreicht und noch mehr DDR-Bürger Richtung Grenzübergange marschieren. Aus einer Handvoll Menschen werden an der Bornholmer Straße binnen weniger Minuten 500 bis 1000 Ausreisewillige. Kurz vor 23 Uhr eröffnet Hanns Joachim Friedrichs die ARD-„Tagesthemen“ mit folgenden Worten: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag: Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“
Erwartungsvolle Stimmung
Auch ich will dabei sein, wenn in Berlin die Mauer fällt. Also höre ich früher mit der Arbeit auf, rufe meine Verlobte an, und wir setzen uns ins Auto. Am Freitagnachmittag befinden wir uns in erwartungsvoller Stimmung auf der Autobahn von Stuttgart in Richtung Nürnberg. Zur gleichen Zeit warten DDR-Bürger in langen Schlangen vor Sparkassen, Banken und Ämtern in Westberlin auf die Auszahlung des Begrüßungsgeldes in Höhe von 100 D-Mark.
„Let’s go west!“
Auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus sprechen Walter Momper, Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt und Helmut Kohl zu bis zu 40 000 Teilnehmern. Um 18 Uhr wird die Glienicker Brücke („Brücke der Einheit“) zwischen Potsdam und Westberlin als erster neuer Grenzübergang geöffnet.
Mit Anbruch der Dunkelheit passieren wir die innerdeutsche Grenze bei Hof. Mit den Gedanken, ob dies das letzte Mal sein könnte, fahren wir auf der Transitautobahn, immer die geltende Höchstgeschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde beachtend. Auf der anderen Straßenseite kommt uns eine nicht abreißende Autokarawane entgegen: „Let’s go west!“
Machen wir etwas falsch? Umgeben von Trabis und Wartburgs kommen wir schneller als gedacht durch die Grenzkontrollen. Im Gegensatz zu uns werden die DDR-Bürger teilweise aus der Reihe der Wartenden gewunken, müssen ihren Kofferraum öffnen und weitere Schikanen über sich ergehen lassen. Kurz vor Mitternacht erreichen wir Westberlin.
Bunte Blousons
Eine Million DDR-Bürger besuchen am Samstag Westberlin. Wir sind mittendrin und feiern mit: Brandenburger Tor, Mauer, Kurfürstendamm, Bahnhof Zoo. Schon von Weitem sehen wir die Menschenmassen auf dem Ku’damm und die Schlangen von Menschen, die sich vor den Banken gebildet haben. „An der Kleidung sollst du sie erkennen . . . “ Vor allem die bunten Blousons verraten die DDR-Bürger.
Die Geschäfte sind auf den plötzlichen Ansturm vorbereitet: Die Verkäuferinnen verteilen Schokoriegel. Jeans, Obst, Zigaretten, Kaffee, Illustrierte, Kosmetika. Günstige Elektrogeräte wie Walkman oder Uhren sind die begehrtesten Mitbringsel, 100 Mark Begrüßungsgeld kann jeder DDR-Bürger ausgeben. Manche von ihnen können die Warenvielfalt des Westens gar nicht fassen und stehen ratlos herum. Andere stecken ihre Köpfe in die neuesten Nachrichten der Tageszeitung.
Stoßstange an Stoßstange
Nicht vom Kaufrummel beeindrucken lassen sich nur diejenigen, denen die persönliche Ost-West-Annäherung am wichtigsten ist: Begegnungen mit Freunden, Bekannten oder Familienangehörigen. Menschen, die bisher durch eine Mauer getrennt waren. Wir sehen Walter Momper mit seinem roten Schal auf einer Kundgebung und auch die Transparente: „Die Mauer muss weg!“
Von der Siegessäule herab haben wir eine atemberaubende Aussicht auf die Straße des 17. Juni – wo Tausende Trabis und andere Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange einen bis zum Horizont reichenden Autokorso bilden.
Hunderte junge Soldaten
Dann kommen wir zum Brandenburger Tor und der Mauer. Uns bietet sich ein historischer Anblick: Oben auf der Mauerkante stehen wie an einer Perlenschnur aufgereiht nebeneinander Hunderte junge Soldaten der Nationalen Volksarmee – unbewaffnet und als Schauobjekte der Demonstranten, von denen die übermütigsten wiederum unter den Augen der Soldaten die ersten Mauerteile mit Hammer und Meißel herausarbeiten. Schon bald ergreifen immer mehr Westler die Gelegenheit, sich ein eigenes Mauerstück als Souvenir zu ergattern. Überall hämmert es, während woanders schon Bagger aufgefahren werden, um den Weg in den Westen frei zu machen. Nicht weit entfernt erinnern weiße Kreuze im Todesstreifen an der Spree an Zeiten, in denen ein Grenzübertritt mit dem Tod bestraft wurde.
Strömende Massen
Im Laufe des Tages bricht der U-Bahn-Verkehr der Linien 6 und 9 gänzlich zusammen. Die Massen strömen ins Zentrum Berlins. Ein Freudentaumel wie bei einer Silvesternacht in London. Unbekannte Menschen fallen sich in die Arme oder reißen die mit schweren Einkaufstüten behängten Arme zum Ausdruck der Freude in die Höhe.
Schießbefehl wird aufgehoben
Am Sonntagmorgen wird alles bunt: Wir bejubeln die über die Glienicker Brücke ankommenden DDR-Bürger. Im roten, grünen, blauen und beigen Trabi oder Wartburg rollen sie über die Brücke, auf der zuvor Spione und Landesflüchtlinge gegen harte deutsche Währung ausgetauscht worden waren. Und direkt über die weiße Grenzmarkierung hinweg reichen sich zwei Polizisten, der eine aus dem Osten, der andere aus dem Westen, die Hand.
Während wir längst wieder auf der Heimfahrt nach Stuttgart sind, gibt der DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler um 13 Uhr im DDR-Fernsehen bekannt, dass der Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze aufgehoben wird.