Georg Nigl als Gefangener (vorne) mit John Graham-Hall als Kerkermeister in Luigi Dallapiccolas Einakter Foto: C. Uhlig

Zwei Einakter des 20. und 21. Jahrhunderts, zwei Stücke über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in unserer Zeit: Die Regisseurin Andrea Breth führt sie zusammen, und Georg Nigl singt und spielt einen Mann, der nur im Tod seine Freiheit findet.

Stuttgart - Die Freiheit? Leise und zweifelnd erklingen die beiden letzten Worte des Mannes auf der Bühne. Allein steht er da, gefesselt, von drei Seilen gehalten, und plötzlich weiß er, dass alle Hoffnung nur eine Täuschung war. Grell ist das Licht, das in diesem Moment aus zwei auseinandergeschobenen schwarzen Wänden von der Hinterbühne auf die leer geräumte Szene von Martin Zehetgrubers Bühne fällt. Der Scheiterhaufen wartet.

Die Freiheit? Ist nur eine Schimäre. Der Bariton Georg Nigl, in Stuttgart zuletzt als Gegenspieler Aschenbachs in „Tod in Venedig“ zu erleben und zuvor hier als Protagonist von Wolfgang Rihms „Lenz“ bejubelt, ist der erst hoffende, dann verzweifelte Titelheld in dem Einakter, mit dem der italienische Komponist Luigi Dallapiccola ab 1949 große Erfolge feierte. Als Kooperation der Opernhäuser von Brüssel und Stuttgart hatte „Il Prigioniero“ („Der Gefangene“) bereits im Januar Premiere am Théatre de la Monnaie und wird zurzeit am Eckensee erarbeitet – mit denselben Sängern, demselben Dirigenten (Franck Ollu), demselben Chor, dessen Partie vorab auf Band aufgenommen wurde (Staatsopernchor Stuttgart), aber mit dem Staatsorchester Stuttgart.

Oper als intensives Theater

Bei der Klavier-Hauptprobe wird dieses allerdings noch durch einen Pianisten ersetzt, und es passieren all die Dinge, die bei der Premiere hoffentlich nicht mehr passieren werden: Verdeckte Monitore müssen frei geräumt werden, damit die Sänger auch aus aberwitzigsten Positionen einen freien Blick auf den Dirigenten haben, und laut stellt Georg Nigl einen Mann an der Seitenbühne in den Senkel: Wie könne man bloß auf seinem Handy herumspielen, während er, der Gefangene, dem Tod ins Auge sieht?

Der Bariton nimmt kein Blatt vor den Mund, auch nicht nach der Probe beim Gespräch in der Theaterkantine. Was ihn antreibt, wenn er sich auch hier wieder auf der Bühne vollständig verausgabt? „Wenn ich Menschen singe und spiele“, sagt Nigl, „dann ist das immer intensiv“, er habe kein Verständnis für „die Kollegen, die nur überlegen, wie sie am besten von A nach B kommen“. Dafür sei ihm Theater viel zu wichtig. Und tatsächlich habe er, der bei den Wiener Sängerknaben musikalisch sozialisiert wurde, „nie über Klang nachgedacht, sondern immer über Inhalte. Wie kann ich Text transportieren? Das war mir wichtig“ – und die schöne Linie, das Legato nur Mittel zum Zweck.

Spezialist für neuere und zeitgenössische Musik

So kam es, dass der Sänger fast zwangsläufig zu einem Spezialisten für neuere und zeitgenössische Musik geworden ist, der, wie er sagt, „bestimmten Komponisten die Treue hält“ (wie etwa Rihm, Furrer, Dusapin). Und der deshalb „nie an italienische Opern oder an Oper von Mozart herangekommen ist“. Das holt der er erst jetzt allmählich nach – als bald 46-Jähriger. Allerdings sei er, der noch als 17-Jähriger im Chor Sopran gesungen habe, immer schon „ein bisserl spät dran“ gewesen. Vieles, was er „einfach so“ gemacht habe, sei ihm erst beim Unterrichten (zwei Jahre als Gesangsprofessor in Stuttgart) bewusst geworden. Immerhin habe er in den 35 Jahren, die er mittlerweile auf der Bühne stehe, seine Stimme nicht derart kaputt gemacht „wie andere, die 20 Jahre lang in den großen Opernhäusern verheizt worden sind und ihren ersten Wagner schon mit 32 Jahren rausgepfeffert haben“. Tatsächlich versteht Georg Nigl Luigi Dallapiccolas Oper als „ein deutliches Signal: Schaut mal her, ich kann lange Phrasen singen!“

Die Musik gibt ihm dazu die Möglichkeit, denn ihr gelingt, indem sie das Konstruierte der Zwölftönigkeit mit italienischer Sanglichkeit verbindet, eine zauberhafte Liaison von Intellekt und Sinnlichkeit. „Dallapiccola“, behauptet Nigl gar, „ist gar nicht so weit entfernt von Puccini.“ Und anstrengend sei diese Produktion nur deshalb gewesen, weil ihm und Andrea Breth 2014 bei „Lenz“ „etwas Großes“ gelungen sei, und hinter diesem Erfolg wollte er nicht zurückbleiben. Zur Erinnerung: Wolfgang Rihms frühes Stück kam beim Stuttgarter Publikum (wie auch in den koproduzierenden Opernhäusern von Brüssel und Berlin) damals so gut an, dass seine letzte hiesige Vorstellung, weil die Karten nicht reichten, sogar ins Kammertheater übertragen wurde.

Zwei Blicke auf die Utopie einer freiheitlichen Gesellschaft

Jetzt sorgt Rihms Einakter „Das Gehege“ für den zweiten Teil des Abends – und für eine Weitung des Blicks auf die Utopie einer freiheitlichen Gesellschaft. 2006 als Vorspiel zu Strauss‘ „Salome“ entworfen, fußt das Stück auf dem abschließenden Monolog von Botho Strauss‘ „Schlusschor“, und Georg Nigl spielt hier nur eine stumme Rolle - neben Ángeles Blancas Gulín, die (was auch als Anspielung auf die deutsch-deutsche Vereinigung gemeint ist) einen träge gewordenen Adler erst befreien will und dann verzehrt. Strauss’ Stück sei, hat Rihm einmal gesagt, als Sprachform schon „in Musik hineingewachsen“, und so symbolträchtig und farbensatt klingt das Stück dann wirklich.

Kommt da also zusammen, was zusammengehört? Die mit Käfigen gespickte Bühne legt das nahe. Selbst nach der immer wieder unterbrochenen Probe bleibt ein Gefühl der Beklemmung zurück, und man kann den siebenjährigen Sohn des Sängers verstehen, der seinen Vater beim Studium der Gefangenen-Partie mit der Frage unterbrach, warum er bloß „immer so traurige Sachen“ singe. Dabei liegt für Nigl die Antwort auf der Hand: „Wenn wir ein Theater gestalten, bei dem die Zuschauer ihre Beine hochlegen, dann haben wir etwas falsch gemacht!“