Wer Geschichte studiert, macht was mit Medien oder wird Taxifahrer. Der Freiburger Robert Neisen hat es gewagt, sich als Historiker selbstständig zu machen. Seine Kunden findet er unter Mittelständlern, Kommunen – und jetzt auch in der Bundesliga.
Selbst auf dem Computerbildschirm wirken die Blätter vergilbt. Sonst wäre es ziemlich unromantisch, wie Robert Neisen über die Aktenseiten surft. Früher durfte der Historiker dazu in muffigen Archiven schwere Bände auf große Tische wuchten. Heute sind viele Archivbestände digitalisiert. Es reicht ein Zugangscode, und alles blättert sich am heimischen Computer auf – so wie jetzt der Jahresbericht des Basler Handels- und Gewerbevereins – Jahrgang 1879.
Ein Beitrag zur Basler Stadtgeschichte ist bestellt. Der 56-Jährige soll recherchieren, wie sehr der Bahnanschluss im 19. Jahrhundert die Wirtschaftsstruktur der schweizerischen Großstadt im Dreiländereck verändert hat. Jetzt hat er wieder einen Mosaikstein gefunden: Die Menge an Rohseide, die in Basel umgeschlagen wurde, stieg damals innerhalb von drei Jahren von 224 000 auf 295 000 Kilogramm. Der geplante Beitrag zum neuen Sammelband Basler Stadtgeschichte nimmt in Neisens Kopf und auf seinen Kladden Gestalt an. Und das Beste: Er wird dafür in Schweizer Franken bezahlt.
Manche behaupten ja, der wichtigste Schein, den man während des Geschichtsstudiums erwerben sollte, sei der Führerschein. Dann kann man später wenigstens Taxifahrer werden. Oder man wird Gymnasiallehrer – wenn man noch ein ordentliches Hauptfach mitstudiert hat. Manche machen irgendwas mit Medien. Einige wenige bringen es bis zum Professor. Und Robert Neisen? Der hat das getan, was in anderen Bereichen selbstverständlich ist: aus dem, was er gelernt hat, einen Beruf gemacht.
Spezialist für Firmenchroniken
Dass er davon auch leben kann, war ein weiter Weg. Als er 1989, nach dem Abitur in Bayern, nach Freiburg kam, wählte er „eben die Fächer, die mich interessiert haben“. Neben Geschichte waren das Politik und Romanistik. Letzteres verschaffte ihm ein Auslandsemester in Madrid, aber auch keinen vorgezeichneten Karriereweg.
„Irgendeine Arbeit finde ich immer“, dachte er sich damals. „Aber dann wollte ich doch nicht kellnern.“ Nach dem Examen 1996 schloss sich eine Promotion an, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. „Eine halbe Stelle, aber sozialversichert“. Wie bei Doktorarbeiten üblich, hatte er ein weitgehend unerforschtes Thema zu beackern: Das britische Frankreichbild in den Jahren 1814 bis 1860. Bis zum Jahr 2000 war er versorgt. Dann kamen neue Zukunftsängste. Er begann ein Aufbaustudium. Als „Master of European Studies“ stehe ihm ganz Europa offen, behauptete die Leiterin des Tübinger Studiengangs. „So einfach war es aber gar nicht“, erzählt Neisen. Viele Organisationen hatten ihre Europabüros gerade wieder zusammengestrichen.
Doch dann klingelte das Telefon. Es war ausgerechnet die Freiburger Arbeitsagentur, die ihm unverhofft ein Angebot unterbreitete: nicht dem noch nicht ganz fertigen Europa-Lobbyisten, sondern dem promovierten Historiker. Auf dem Speicher des Freiburger Rathauses war der Nachlass eines ebenso langjährigen wie legendären Leiters des städtischen Wohlfahrtsamtes entdeckt worden. Zehn Ordner hatte der Beamte hinterlassen, die einen eindrucksvollen Blick auf die sozialen Verhältnisse der jungen Bundesrepublik und den Beginn des Wohlfahrtsstaats versprachen. Jemand sollte das aufarbeiten. Neisen sagte sofort zu.
Die Stelle war befristet, doch der Weg vorgezeichnet. Die Forschungsarbeit brachte ihn in Kontakt mit dem Seminar für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Der Lehrstuhlinhaber schanzte ihm den nächsten Auftrag zu. Beim Lions-Club sei er von einem Industriellen angesprochen worden, erzählte ihm der Professor. Das Unternehmen wolle dem Patriarchen zum 80. Geburtstag eine Firmenchronik schenken. Als Ordinarius habe er dafür keine Zeit, doch er habe sofort an Neisen gedacht, dessen Vertrag bei der Stadt auslief. „Das wäre doch was für Sie!“ Neisen machte sich an die Arbeit, studierte alte Vorstandsprotokolle, sprach mit Zeitzeugen und schrieb eine Firmengeschichte, die den Seniorchef glücklich machte. „Konjunktur aus eigener Kraft“ so der Titel. Aus Dankbarkeit vermittelte ihm der Chef das nächste Unternehmen als Kunden. Ein Geschäftsfeld war entdeckt. „Die Chance der Freiheit genutzt“, überschrieb er die Monografie über eine nach dem Krieg gegründete Siebdruckmaschinen-Fabrik. „Die Perfektion vor Augen“, hieß das Buch über einen großen Optiker-Betrieb.
„Die NS-Zeit ist der Elefant im Raum“
Er habe durch diese Arbeit viel über die Unternehmenskultur bei südbadischen Mittelständlern gelernt, sagt Neisen. Umgekehrt konnte er aus der Geschichte häufig eine Firmen-DNA ableiten, die den Mitarbeitern Stolz auf das eigene Unternehmen vermittelte. Dabei erlebte er bisweilen Kurioses. Bei einem Hersteller von Elektrosicherungen konnten sich die beiden Seniorchefs, zwei Brüder, nicht ausstehen. Das Doppelinterview wurde zum Erlebnis: „Wenn der eine kurz das Zimmer verließ, hat der andere mir erklärt, dass alles ja ganz anders gewesen sei, als sein Bruder gerade gesagt habe.“ Der Zwist solle unbedingt in die Firmenchronik, wurde ihm später erklärt. Schließlich war auch damit eine Botschaft verbunden: Das Wohl der Firma steht über allen persönlichen Animositäten.
30 bis 40 Prozent seiner Arbeitszeit veranschlagt Neisen für Archivarbeit, 20 Prozent für Zeitzeugen-Interviews. Der Rest der Zeit fließt in Auswertung und Produktion. Auf seiner Homepage nennt Neisen Preise. 40 Euro pro Stunde oder 300 Euro pro Seite stellt er in Rechnung. Anfangs war es schwierig, dies auch durchzusetzen. Viele Firmenchefs verhandelten hart und hatten wenig Sinn für die Mühen eines Historikers.
Konflikte gab es auch bei manch heiklen Themen. „Die NS-Zeit ist der Elefant im Raum“, hat Neisen festgestellt. Er müsse es ja nicht gänzlich unter den Teppich kehren, dass der Firmengründer ein strammer Nazi gewesen sei, erklärte ihm ein Geschäftsführer – und gab dann zu verstehen, was er erwartete: dass dieses Kapitel „im Anbetracht der vielen Verdienste“ des Altvorderen nur ein Randaspekt in der Chronik sein werde. Auf 180 Seiten blieb zu dem Thema am Ende eine Seite übrig. Die Gemeinde, in der das Unternehmen ansässig ist und der Firmengründer noch heute als Ortsheiliger gilt, verzichtete in Anbetracht der heiklen Konstellation ganz auf die beabsichtigte Aufbereitung ihrer NS-Zeit.
Mittlerweile ist aber auch dies zum Standbein für Neisen geworden: Für Lörrach hat er schon die jüngste Stadtgeschichte aufgearbeitet, ebenso für Bötzingen und Villingen-Schwenningen. Längst besitzt er den Ruf, ein Experte für die NS-Zeit in Südbaden zu sein. Er habe schon länger keine Akquise mehr betreiben müssen, sagt er. Sieht man einmal von dem taktisch gesetzten Vortrag ab, den er im vergangenen Jahr beim Geschichtsverein von Weil am Rhein hielt. Jetzt hat ihn auch der dortige Gemeinderat mit der Aufarbeitung der örtlichen NS-Geschichte beauftragt.
Auch der SC Freiburg hat schon angeklopft
Das Auftragsbuch ist voll. Jüngst klopfte sogar der SC Freiburg an. Die große Borussia aus Dortmund und der VfB Stuttgart haben ihre Rolle in Hitler-Deutschland schon untersuchen lassen; Bayern Münchens zweifelhafter Umgang mit dem jüdischen Vereinspräsidenten Kurt Landauer wurde vor Jahren sogar verfilmt. Jetzt kam aus der Fanszene des SC der Wunsch, auch die eigene Geschichte unter die Lupe zu nehmen. Badens größter Verein war damals ein Kleine-Leute-Club, der zwischen Bezirksklasse und Gauliga pendelte. Wie stand es dort um Widerstand, Mitläufertum und offene Unterstützung? „Wir Historiker spielen ja gleich drei Rollen. Wir sind Ankläger, Verteidiger und Richter in einem“, sagt Neisen – und vertieft sich wieder in die Basler Jahresberichte.