Zwischen Trauer und Ermutigung – Deutschland nach dem tragischen Tod von Tugce A. Foto: dpa

Zivilcourage bedeutet zum Glück nicht automatisch Lebensgefahr. Deshalb liegt im tragischen Schicksal von Tugce A. auch ein Stück Ermutigung für uns alle, meint unser Kommentator Jan Sellner.

Es sind die schicksalhaften Geschichten, die die Menschen bewegen. Wie die tieftraurige Geschichte von der 22-jährigen türkischen Lehramtsstudentin Tugce A., an der ganz Deutschland Anteil nimmt. Niedergeschlagen von einem 18-Jährigen, dem sie sich in den Weg gestellt hatte, als er zwei Mädchen belästigte. Für immer eingeschlafen am vergangenen Freitag – ihrem 23. Geburtstag –, nachdem die Ärzte ihren Hirntod festgestellt und die Eltern sich zum Abschalten der lebenserhaltenden Geräte entschlossen hatten. An diesem Mittwoch wird sie zu Grabe getragen. Zu dieser aufwühlenden Geschichte gehört, dass die junge Frau Organspenderin ist. Drei Empfängern gibt ihr früher Entschluss Hoffnung auf ein längeres Leben.

Die emotionale Wucht dieser Geschichte spiegelt sich in einer beispiellosen Solidarisierung: Mehr als 130 000 Bürger unterstützen mit ihrer Unterschrift das Vorhaben, die junge Frau posthum mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen. Noch mehr Menschen verneigen sich in den sozialen Netzwerken vor ihrer mutigen Tat. In Lahr veranstalteten Schüler eine literarische Soiree zum Thema Zivilcourage. Der Frankfurter Fußballspieler Haris Seferovic wandelte seinen Torjubel am Sonntag in einen Gruß um: „Tugce = Zivilcourage # Engel # Mut # Respekt“, stand auf dem Shirt, das er in die Kamera hielt. Deutschland zeigt Gefühlsstärke über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg. Man sollte das nicht als Ausdruck einer oberflächlichen Betroffenheitskultur abtun, sondern darin ein gutes Zeichen sehen. Denn mit ihrer großen Anteilnahme am Tod der jungen Frau bezeugen die Menschen auch Hochachtung vor dem Wert der Zivilcourage, ohne die ein lebendiges Gemeinwesen nicht bestehen kann.

Darin schwingt die simple und doch so schwer zu beantwortende Frage mit: Wie würde man selbst reagieren? Der tragische Tod der Lehramtsstudentin gibt einen Anstoß, sich damit auseinanderzusetzen – ähnlich wie vor fünf Jahren anlässlich des gewaltsamen Todes des Geschäftsmanns Dominik Brunner, der sich an einem Bahnsteig in München schützend vor vier Jugendliche gestellt hatte und anschließend die Angreifer angegangen war – mit für ihn tödlichen Folgen.

Dabei ist Zivilcourage in der Regel keine Frage von Leben und Tod oder von Verletzungen. Die bedrückenden Schicksale von Tugce A. und Dominik Brunner stellen glücklicherweise Ausnahmen dar – ohne die Gefahren durch häufig alkoholisierte Schläger deshalb verharmlosen zu wollen. In den meisten Fällen bleibt mutiges Einschreiten ohne physische Folgen. „Tagtäglich helfen Menschen anderen, und es geht gut“, sagt der Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention des Bundes und der Länder, Harald Schmidt.

Allerdings ist es wichtig, auf Konfliktsituationen gedanklich vorbereitet zu sein. Schon bald wird das Entsetzen über Tugces Schicksal gewichen sein, weil auf dem großen Nachrichtenumschlagplatz der Medien neue Themen die öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchen. Die Frage der Zivilcourage jedoch bleibt. Sie kann sich jedem jederzeit stellen – in der Stadtbahn, auf der Straße, beim Spazierengehen. Als Zeuge einer Straftat ist man sogar gesetzlich verpflichtet einzugreifen – im Rahmen der Möglichkeiten.

Dabei sollte man sich klarmachen, dass man kein Superheld sein muss, um etwas bewirken zu können. Ähnlich wie bei Erster Hilfe ist es wichtig, die entsprechenden Techniken zu kennen. Wer weiß schon intuitiv, dass man sich in solchen Situationen ausschließlich dem Opfer zuwenden soll, nicht aber dem Täter? Oder dass schon kleine Gesten hilfreich sein können – etwa die Mobilisierung von Umstehenden? Das Wissen von Fachleuten steht bereit. Es sollte allerdings auch an den Mann und die Frau gebracht werden – und an die Kinder. Zivilcourage fängt im Elternhaus und in der Schule an.

j.sellner@stn.zgs.de