Der 83- jährige Eckart Hirschmann an der Tastatur des Glockenspiels. Foto: Horst Rudel

Jeder hört ihn, doch keiner kennt ihn: Seit 1999 bedient Eckart Hirschmann das Glockenspiel im Alten Esslinger Rathaus. 290 Melodien hat er selbst arrangiert. Am Wochenende ist er beim Glockenspiel-Festival „Turm und Klang“ zu hören.

Esslingen - Sein Spiel bestimmt den Pulsschlag der Stadt. Er gehört zur Esslinger Altstadt, wie das Flattern von Taubenflügeln und das Plätschern des Marktbrunnens. Der 83-jährige Eckart Hirschmann spielt seit 18 Jahren das Glockenspiel im Esslinger Rathaus. Es ist die Geschichte einer Liebe, die immer größer wurde. Auch er zeigt seine Kunst beim Esslinger Glockenspiel-Festival nächstes Wochenende.

Wie weit höre ich Sie?
Bis auf die Burg und die ganze Esslinger Innenstadt – wenn der Wind in die richtige Richtung geht.
Schweben Sie über der Stadt, oder sind Sie noch ein Teil der Stadt?
Ich bin mitten in der Stadt. Weil ich ja in Gedanken auch bei dem bin, was ich tue: Die Zuhörer mit meinem Glockenspiel zu erfreuen.
Gibt es nicht Leute, die sagen, ich will jetzt lieber schlafen?
Doch, für die bin ich halt ein Störenfried, aber die anderen erleben es, wie schön und einmalig dieses Glockenspiel erklingt.
Bleiben Leute stehen, um zu lauschen?
Wenn ich spiele, etwa 25 Mal im Jahr, dann kommen die Leute, um die herrlichen Melodien vom Glockenspiel zu hören.
Sehen Sie die Gesichter der Menschen?
Es scheint weit zu sein. Aber wenn man oben steht und hinunter schaut, sieht man die Gesichter tatsächlich. Man sieht auch den Eindruck, den das Spiel vermittelt hat, auch die Freude.
Sie sehen das Lächeln auf den Gesichtern?
Auch. Aber am Ende eines Konzertes zeige ich mich am Fenster wie es sich gehört und bedanke mich für den Beifall und das Lächeln als Zeichen des Wohlgefallens.
Hat Sie die Musik zu einem glücklichen Menschen gemacht?
Ja, es ist auch die Musik, die mich glücklich gemacht und mich mein Leben lang begleitet hat. Seit 1999 habe ich den Auftrag der Stadt, dieses Glockenspiel zu betreuen und dazu gehört auch, das automatische Spiel zu programmieren. Esslingen hat mit 500 Melodien den wahrscheinlich größten Bestand an umsetzbarer Musik. 290 Melodien habe ich selbst für das Esslinger Glockenspiel arrangiert. Dazu kommen noch 212 Melodien, die mein Vorgänger Paul Schwob seit 1972 arrangiert hat und die auf den Lochbändern gespeichert sind.
Das heißt, ich höre auch mal die Zauberflöte oder Beethovens Neunte?
Ja – und noch viele andere bekannte klassische Kompositionen, sowie auch eine große Auswahl von internationalen Volksliedern, Abendliedern und Weihnachtsliedern, die zum Repertoire dieses Glockenspiels gehören.
Umsetzen bedeutet, dass Sie diese Musik dann abspielen?
Es ist so: ehe man ein Stück auf dem Glockenspiel spielen möchte, müssen erst die Noten geschrieben werden. Die große Herausforderung ist, das Stück so umzusetzen (arrangieren), dass es von den Glocken genauso schön klingt wie beispielsweise auf dem Klavier. Zur Melodie kommt noch eine zweite Stimme, welche die Melodie umspielt und auf diese kunstvolle Weise das Stück wie gewohnt mit Begleitakkorden wahrgenommen wird.
Ein Glockenspiel ist schwerfällig. Wie machen Sie Tempi und Dynamik?
Es ist ein Glockenspiel mit einem elektromagnetischen Anschlag der Glocken. Diese Art gibt dem Glockenspieler nicht die Möglichkeit, nuanciert zu spielen. Wenn ich also an der Tastatur eine Taste niederdrücke, geht eine Kraft eines Stromstoßes hinauf zu diesen elektromagnetischen Hammerwerken und löst den Glockenanschlag aus. Die Größe und das Gewicht der Glocke bestimmt natürlich auch die notwendige Anschlagstärke und Größe des Anschlaghammers. Etwas, was größer ist, braucht mehr Kraft und mehr Zeit. Beim Spielen eines Stückes muss ich mich auf den Glockenanschlag einstellen und beachten, dass die Glocken lange klingen und ein störendes Ineinanderklingen der Glocken möglichst vermieden wird.
Bekommen Sie Rückmeldungen?
Ich werde darauf angesprochen wie wunderschön diese Melodien, die vom Glockenspiel erklingen, zu Herzen gehen. Das berührt mich sehr und ist für mich das Wichtigste, was ich erreichen kann.
Als Musiker ist man ein darstellender Künstler. Stört es Sie nicht, dass die Musik nach dem Spielen verweht wird?
Nein, denn da ist ja dieses gewaltige Instrument mit seinem Einzelleben. Jede Glocke hat ihre Eigenart, Eigenheit. Das ist eine geheimnisvolle Sache, die man selbst wirklich erst erleben muss. Niemand hat mir das gezeigt oder vorgetragen.
Das bedeutet, Sie spielen das größte Instrument in der Stadt?
Ja, abgesehen von der Orgel, und bedenken Sie, seit 1927 wurde dieses Glockenspiel live gespielt. Das ist ein Merkmal, das es sonst nicht gibt.
Ist es das größte Instrument im Großraum?
Nein, Esslingen hat 29 Glocken, das Glockenspiel auf dem Stuttgarter Rathaus hat eine Glocke mehr, 30 Glocken.
Sind Sie Profi-Musiker gewesen?
Nein. Das heißt, ich habe immer sehr gerne Musik gemacht. Mit 13 Jahren wäre ich sehr gerne Musiklehrer geworden. Aber es war Nachkriegszeit und das Schicksal hatte anderes mit mir vor.
Was war ihr Brotberuf?
Mein Vater gründete einen Großhandel für chirurgische Instrumente und sagte, ,eigentlich bräuchte ich dich jetzt’. Aus dieser Notwendigkeit heraus wurde ich zum Großhandelskaufmann ausgebildet. Ich habe mich weitergebildet zum Bilanzbuchhalter und nebenberuflich Betriebswirtschaft und EDV studiert. Diese Kenntnisse waren von den Industriefirmen damals in den Jahren ab 1970 sehr gefragt. Bis zu meiner Rente im Jahr 1999 war ich in Industriefirmen auf diesen Gebieten in leitender Stellung tätig.
Wann wurden sie Glockenspieler?
1999 verstarb der Kapellmeister Paul Schwob, der das Glockenspiel auf dem Alten Rathaus Esslingen über 33 Jahre spielte und über 200 Stücke arrangierte. Paul Schwob war mein Schwager, und ich wurde durch meine Schwester darauf aufmerksam gemacht, dass das Kulturamt dringend einen Nachfolger sucht, der dieses Werk fortführt.
Sie haben ein wunderbares Leben gehabt?
Ich habe Glück gehabt, wahrscheinlich. Aber ich glaube, es war das hohe Engagement für eine Sache, die mich voran gebracht hat. Im Berufsleben hatte ich das Glück, immer Neues umsetzen zu können und als Glockenspieler und Arrangeur sogar künstlerisch zu wirken.
Wenn Sie aus dem Rathaus herunterrufen könnten, was würden Sie den Leuten sagen?
Ich liebe die Stadt! Ich liebe das Glockenspiel und lasse seine Stimme zu Eurer Freude erklingen.