Diese armen Teufel haben Anfang des Jahrhunderts in den USA den Wohlstand anderer erschuftet: Lewis Hine hat den Skandal der Kinderarbeit in Fotos dokumentiert. Foto: Library of Congress, Prints Photographs Division, National Child Labor Committee Collection

Wie haben sie gelebt, was ist aus ihnen geworden? Das fragt man sich, wenn man die zu harter Arbeit gezwungenen Kinder sieht, die Lewis Hine Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA fotografiert hat. Ein neuer Fotoband versammelt diese Bilder, die man nicht mehr vergisst.

Stuttgart - Einigen der Kinder sieht man tiefste Verzweiflung an, mancher Vorschulknirps wirkt bereits völlig ausgebrannt. Anderen aber ist Stolz anzusehen, und das ein oder andere Kind leuchtet für einen Moment vor Freude, wenn es sich vor der Kamera aufbauen darf: Dachten diese Opfer von Kinderarbeit, der amerikanische Fotograf Lewis W. Hine werde sie mit einem Foto von ihrer Fron erlösen können? Oder begriffen sie, dass dieses gerade entstehende Foto von ihrem harten und oft kurzen Leben am längsten bleiben würde? Wollten sie nicht nur als Niedergetretene in Erinnerung bleiben?

Das Glück ist mit den Tüchtigen: Solche Sprüche klangen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie böser Hohn auf die Realität der Arbeitswelt. In den USA schufteten damals geschätzt 2 Millionen Minderjährige für lachhafte Löhne. Einige Arbeitsumgebungen und Jobs waren so gefährlich, auslaugend und ungesund, dass die Kinder kaum eine Chance hatten, heil die Volljährigkeit zu erreichen.

Zündfunke der Empörung

Es gab bereits Gesetze wenigstens gegen die schlimmsten Formen der Kinderausbeutung. Aber sie wurden oft nicht eingehalten. Die landesweite Lobby-Organisation National Child Labor Committee (NCLC) bündelte viele Anstrengungen, die Lage der Kinderarbeiter zu verbessern. Doch lange fehlte ihr der entscheidende Zündfunke zur Entfachung großer öffentlicher Empörung.

Im Jahr 1908 aber heuerte das NCLC den Reformpädagogen Lewis Hine (1874-1940), der sich selbst das Fotografieren beigebracht hatte und nun mit seinen Bildern die Welt verbessern wolle. Hine dokumentierte nun quer durchs Land, wie Kinder verschlissen wurden. Was er mit seiner schweren, umständlichen Glasplattenkamera einfing, wurde nicht nur ein wichtiges Werkzeug im Kampf des NCLC um Aufmerksamkeit. Hines Bilder, die in Zeitungen und Magazinen erscheinen und die Öffentlichkeit aufrüttelten, sind von einer solchen Kraft, dass sie zu Klassikern der Fotokunst werden.

Aufgefressene junge Leben

Mit dem treffend betitelten, von Wilfried Kaute zusammengestellten „The Boss don’t care“ legt der Emons-Verlag jetzt einen Band mit Hines Kinderarbeitsfotos vor. Die Arbeit selbst hat Hines eher selten einfangen können. Häufig wurde ihm der Zutritt zu Fabriken, Bergwerken und Schwitzbuden aller Art schlicht verwehrt. Heimliche Schnapsschüsse aus der Hüfte waren nicht möglich, die große Kamera musste noch zeitraubend aufgebaut werden. Das aber erweist sich nun als großer Vorteil. Unser Blick richtet sich nicht auf die Arbeit selbst. Er ist ganz auf die jungen Leben konzentriert, die von der Arbeit aufgefressen werden. Man sieht ja noch genug von der Maloche selbst: Sie hat sich in die Gesichter und Körper bereits eingegraben.

Die Bilder von Kindern in der Pause, nach Feierabend, manchmal auch von ganzen minderjährigen Belegschaften, die sich zum Gruppenfoto aufstellen, haben eine eigene, tief anrührende Aura. Jedes Bild ruft die Fragen neu auf: Wo seid Ihr hin? Was ist aus Euch geworden? Wie verlief euer Leben? Wie alt durftet Ihr wohl werden?

Kinderarbeit gibt es noch

„The Boss don’t care“ ist nicht als Fotokunstband fürs Regal angelegt, als Museum klassischer Bilder. Mit seinen Texten und dem Vorwort von Jean Ziegler, der als Berater des UN-Menschenrechtsrates schon oft auch auf Kinderarbeit aufmerksam machte, verknüpft das Buch Hines Fotos mit unserer heutigen globalisierten Arbeitswelt. In Deutschland schuften keine kleinen Kinder. Aber viele Waren auf dem deutschen Markt sind anderswo, weitab von unserem Blick, in Kinderarbeit entstanden. Es gibt nicht oft einen Fotoband, dem man wünschen würde, wirklich jeden zu erreichen. Aber dies ist definitiv so ein Ausnahmefall.

Wilfried Kaute (Hrsg.): The Boss don’t care – Kinderarbeit in den USA 1908-1917. Fotografien von Lewis W. Hine. Emons-Verlag, Köln. 320 Seiten, 39,95 Euro.