Siegfried Schiele gilt als Vater des Beutelsbacher Konsenses. Foto: Jan Potente

Der Beutelsbacher Konsens hat den Namen des Weinstädter Teilorts weltbekannt gemacht – seit 1976 hat die bildungspolitische Vereinbarung nicht an Aktualität verloren.

Verpflichtung - Es hat mich unheimlich geärgert, dass sich die AfD auf den Beutelsbacher Konsens berufen hat“, sagt Siegfried Schiele zum Aufruf der rechtspopulistischen Partei, ihr Lehrer zu melden, die sich kritisch über sie äußern. Der ehemalige Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg ist „der Vater“ der 1976 getroffenen bildungspolitischen Vereinbarung, die in diesem Zusammenhang den Namen Beutelsbachs in die Welt hinaus getragen hat. Dabei ist diese Ehre dem heutigen Teilort Weinstadts eher zufällig zuteil geworden.

Der Demokratie verpflichtet, nicht den Parteien

Schiele sah es damals als junger Direktor als seine Pflicht an, Vertreter verschiedener Bereiche der politischen Bildung an einen Tisch zu bringen. „Es gab unterschiedliche, gegensätzliche Strömungen, man hat sich nur noch bekämpft und war schon lange nicht mehr miteinander ins Gespräch gekommen. Ich musste versuchen, diese Strömungen zusammenzubringen“, erinnert sich Schiele, der die Gefahr sah, dass ohne eine solche gemeinsame Basis Kinder instrumentalisiert werden könnten. Schließlich sei er mit dem Amt, das er übernommen hatte, der Pluralität in der Demokratie verpflichtet und nicht der Neutralität einer Partei gegenüber, erklärt der Didaktiker.

Vertreter von Hochschulen und Praktiker aus dem Schulleben waren nach Beutelsbach eingeladen. Warum nach Beutelsbach? Die Gründe seien rein praktischer Natur gewesen, erklärt dazu Werner Fichter, der Pressesprecher der Landeszentrale für politische Bildung. Weil man damals noch keine eigene Tagungsstätte hatte, habe man in das Landgut Burg eingeladen. Dort wurde unter der Leitung von Siegfried Schiele eifrig diskutiert.

Das Ergebnis fasste im Anschluss der Politikwissenschaftler Professor Hans-Georg Wehling zusammen: den Beutelsbacher Konsens, der weit über Deutschland hinaus in der Fachwelt Beachtung finden sollte. Sogar ins Koreanische sei Wehlings Buch übersetzt worden, hebt Fichter hervor, wobei er einräumt, dass die Vereinbarung eher nur in der Fachwelt Anerkennung genießt. Daher habe er als Reaktion auf den AfD-Aufruf jüngst eigens eine Pressemitteilung herausgegeben, um die Öffentlichkeit über die Inhalte des Beutelsbacher Konsenses aufzuklären.

Der Konsens bestehe aus drei Grundsätzen, erläutert Schiele. „Der erste ist das Überwältigungsverbot. Das heißt, niemand darf zu einer Meinung gezwungen werden.“ Als Zweites solle das, was in Gesellschaft und Politik kontrovers ist, auch in der politischen Bildung so erscheinen. Drittens sollen Schüler bei der Auseinandersetzung mit der Politik dazu befähigt werden, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

Schiele: AfD-Thesen im Widerspruch zum Beutelsbacher Konsens

Die von der AfD vertretenen Thesen hingegen stünden im Widerspruch zum Beutelsbacher Konsens, sagt Schiele: „Die AfD vertritt Positionen, die demokratische Grundsätze verlassen.“ Daher dürften Lehrer im Sinne des Grundgesetzes parteiisch sein, führt Werner Fichter aus. Zwar verpflichte der Beutelsbacher Konsens Lehrkräfte zur Wertneutralität, sagt er. Wörtlich heißt es im Konsens dazu: „Wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.“ Wenn aber politische Parteien Antisemiten in ihren Reihen duldeten, erkennbare personelle Überlappungen in die rechtsradikale und rechtsextremistische Szene zeigten und deren Abgeordnete bei Demonstrationen mitliefen, bei denen offen der unter Strafe stehende Hitler-Gruß gezeigt werde, dann müsse dies im politischen Unterricht kritisch angesprochen werden, sagt Fichter.

Aber ist der Beutelsbacher Konsens Lehrern heute überhaupt noch ein Begriff, insbesondere den jüngeren? Als Terminus wohl eher nicht, antwortet Michael Stoeß, der Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Rems-Murr-Kreis. Auch ihm sei der Begriff nicht geläufig gewesen, aber die Inhalte des Konsenses sehr wohl, die in der Ausbildung junger Lehrer thematisiert und in der Praxis an den Schulen auch umgesetzt würden. Dabei könnten sich die Pädagogen der rechtlichen Unterstützung der GEW sicher sein, sagt Stoeß. Nach der ersten „hochaufgeregten Diskussion“ unter der Lehrerschaft nach dem AfD-Aufruf indes sei das Thema aktuell in gewerkschaftlichen Versammlungen nicht relevant: „Da gibt es Wichtigeres.“ Abgesehen davon sei es nicht der richtige Weg, sich öffentlich auf einer Internetplattform über einen Lehrer zu beschweren. Eltern sollten sich stattdessen ans Kultusministerium wenden, das die Schulaufsichtsbehörde einschalte, die auf die jeweilige Schulverwaltung zugehe und das Gespräch mit dem betreffenden Lehrer suche.