Kritiker befürchten, dass die Fachkenntnis der Hausärzte bisweilen nicht ausreicht, eine Depression von einer schwierigen Lebensphase zu unterscheiden. Foto: Mauritius

Im Kampf gegen Depressionen greifen immer mehr Menschen zu Medikamenten. Experten sagen, diese werden zu leichtfertig verschrieben.

Stuttgart - Eines Morgens wachte ich auf und wollte leben. Es war, als sei die Depression von mir gewichen, wie der Nebel im Lauf des Tages aus San Francisco abzieht.“ So beschrieb die US-Amerikanerin Elizabeth Wurtzel einmal, wie sie mithilfe von Medikamenten ins Leben zurückgefunden hat. Wurtzel befand sich seit ihrer Kindheit im festen Griff schwerer Depressionen und war eine der Ersten, die gegen Ende der 1980er Jahre mit dem Antidepressivum Fluoxetin behandelt wurde. Seitdem hat der Absatz der „Stimmungsaufheller“, die an Botenstoffen im Gehirn ansetzen, einen regelrechten Boom erlebt, – vor allem in den USA, aber auch in Deutschland.

Nach dem Arzneimittelreport von 2016 sind die Verschreibungszahlen für Antidepressiva seit 1995 Jahr für Jahr in die Höhe geklettert, von 292 Millionen Tagesdosierungen auf 1400 Millionen im Jahr 2014. Diese letztgenannte Menge reicht aus, um 3,7 Millionen Menschen über das ganze Jahr hinweg medikamentös zu versorgen. Oft sind es dabei nicht speziell für psychische Störungen ausgebildete Psychiater selbst, die zum Rezeptblock greifen, sondern Hausärzte oder Internisten. Kritiker befürchten, dass die Fachkenntnis der Hausärzte bisweilen nicht ausreicht, eine Depression von einer schwierigen Lebensphase zu unterscheiden. Gerade unter Zeitdruck könnten sie so schnell einmal ein Rezept ausstellen, um ihre Patienten nicht mit leeren Händen aus der Praxis zu entlassen.

Antidepressiva werden zu leichtfertig verschrieben, ist der Psychiater Tom Bschor überzeugt, der Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin ist. Ähnlich sieht es der Mediziner Gerald Gartlehner von der österreichischen Donau-Universität Krems. „Vielen Ärzten scheint nicht klar zu sein, dass die Medikamente alles andere als harmlos sind“, sagt Gartlehner.

Die sogenannten Stimmungsaufheller haben viele Nebenwirkungen

In seinen eigenen Studien hatten 60 Prozent der Patienten mit Nebenwirkungen zu kämpfen. „Gerade bei älteren Menschen kann es zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen“, fährt Gartlehner fort. Und an sich eher harmlose Nebenwirkungen wie Schwindel könnten bei dieser Gruppe dramatische Auswirkungen haben. Die betagten Patienten stürzen leichter und ziehen sich Knochenbrüche zu. Zu den schweren Nebenwirkungen zählt ein erhöhtes Suizidrisiko bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

So manche Nebenwirkungen wären vielleicht für Patienten noch akzeptabel – sofern ihnen die Tabletten einen echten medizinischen Mehrwert böten. Studien haben zwar über die Jahre und Jahrzehnte den „Stimmungsaufhellern“ eine Wirksamkeit bescheinigt. Doch eine Reihe von Metaanalysen, die verschiedene Einzelstudien zusammenfassen, zeichnen ein etwas anderes Bild: Meist ist es relativ gleichgültig, ob die Patienten ein echtes Medikament oder eine Zuckertablette bekommen hatten. Nur bei schwer depressiven Patienten ging die Wirkung der Medikamente in einem relevanten Maße über die der Placebos hinaus. Für diese Menschen gibt es sehr gute Gründe, die Tabletten einzunehmen.

„Antidepressiva sind leider keine Medikamente, die besonders gut wirken, und man muss sie sehr lange einnehmen“, betont Gerald Gartlehner. „Und nur rund 60 Prozent der Patienten sprechen überhaupt darauf an“, sagt er. Bei den restlichen 40 Prozent müsse man die Therapie wechseln oder ergänzen. Die nationalen Leitlinien zur Behandlung von Depressionen haben in einigen Ländern auf die im Vergleich zum Placeboeffekt eher bescheidene Wirkung von Antidepressiva reagiert. Die deutsche Leitlinie aus dem Jahr 2015 empfiehlt aufgrund des „ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses“ Antidepressiva nicht generell in der Erstbehandlung von leichten depressiven Episoden.

Viele Patienten wissen gar nicht, dass es Alternativen zu Antidepressiva gibt

„Leichte Depressionen stellen aber einen Großteil der depressiven Erkrankungen dar“, betont Tom Bschor, der an der Leitlinie mitgearbeitet hat. „Und es entspricht meiner Beobachtung, dass Antidepressiva in solchen Fällen häufig dennoch und abweichend von der Leitlinienempfehlung eingesetzt werden.“ Auch das trage zur Überverschreibung der Medikamente bei.

In seiner psychiatrischen Abteilung in Berlin gibt Tom Bschor Patienten mit leichten Depressionen nur in Ausnahmefällen Antidepressiva – etwa wenn die Patienten schon zuvor eine schwere Depression hatten. „Betroffenen mit schweren Depressionen hingegen geben wir schon einen klaren Rat für ein Antidepressivum“, betont der Psychiater. „Da es eben neben dem Placeboeffekt eine – wenn auch moderate – pharmakologische Wirkung gibt.“

Dem Mediziner Gerald Gartlehner zufolge muss die Indikation sehr sorgfältig gestellt werden, bevor man Antidepressiva verschreibt. Zudem sei es wichtig, dass man Patienten auch über die verschiedenen anderen Therapieoptionen und deren jeweiligen Vor- und Nachteile informiere: „Viele Patienten wissen gar nicht, dass es Alternativen zu Antidepressiva gibt.“

Gartlehner hat in diversen Untersuchungen verschiedene Formen von Psychotherapie mit Antidepressiva verglichen. Die belastbarsten Ergebnisse hat er für die Kognitive Verhaltenstherapie gefunden. Bei dieser Variante lernen Betroffene zu verstehen, wie ihre Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen daran mitwirken, eine Depression hervorzurufen oder zu verschlimmern. Die Patienten erfahren, wie sie kontraproduktive Gedanken wie „Ich bin wertlos und an allem selbst schuld“ durch vorteilhaftere ersetzen.

Gerald Gartlehner fand nun keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Wirksamkeit von Antidepressiva und Kognitiver Verhaltenstherapie – egal wie stark die Depression ausgeprägt war. Die Behandlung mit Antidepressiva hatten Patienten aber aufgrund der Nebenwirkungen öfter abgebrochen. „Aus meiner Sicht ist die Kognitive Verhaltenstherapie damit eine echte Alternative zu Antidepressiva“, sagt der Experte. Und Psychotherapie kann noch mit einem echten Vorzug aufwarten: Sie ist nachhaltig – sie kann anders als Tabletten auch nach dem Ende der Behandlung noch weiterwirken.

Info: Depression

Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind Depressionen die häufigsten psychischen Erkrankungen – mehr als 300 Millionen Menschen weltweit leiden dran. Die wichtigsten Symptome einer Depression sind eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und verminderter Antrieb sowie rasche Ermüdbarkeit.

Die heutzutage am häufigsten eingesetzten Antidepressiva sind die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie verhindern, dass im Gehirn Serotonin von seinem Wirkort entfernt wird, was letztlich die Konzentration des wichtigen Botenstoffs erhöht. Rein chemisch passiert das bereits innerhalb weniger Minuten. Bis sich das Befinden der Patienten bessert, dauert es aber oft Wochen. Offenbar sind hier also noch andere Prozesse im Spiel, die von den Tabletten lediglich angestoßen werden.