Otto von Bismarck: Reichskanzler, Reichsgründer – Kolonialist? Foto: dpa/Jonas Klüter

Hat Otto von Bismarck Bismarck kein Denkmal verdient, weil er angeblich Afrika ausbeuten wollte? Wir stellen fünf große Deutsche, deren Ruf gerade leidet, auf den Prüfstand.

Berlin - Seit dem Mord an dem Afroamerikaner George Floyd demonstrieren Menschen in den USA gegen Polizeigewalt und Rassismus, stürzen Denkmäler von Sklavenhaltern und Südstaaten-Generälen. Auch in Deutschland tobt eine Debatte über die Frage, welche historischen Persönlichkeiten es verdienen, geehrt zu werden. Wir nehmen mit dem renommierten Politikwissenschaftler Herfried Münkler fünf Deutsche unter die Lupe, die vom Sockel ihres Denkmals zu rutschen drohen.

 

Darf Bismarck stehen bleiben?

Der Beschuldigte: Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898), Architekt der Einigung Deutschlands.

Der Vorwurf: Aktuell werfen Kritiker Bismarck vor, ein Wegbereiter des deutschen Kolonialismus gewesen zu sein.

Die Fakten: „Bismarck war ein ausgesprochener Gegner der deutschen Kolonialreichbildung“, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Legendär geworden ist der Satz, mit dem der Reichskanzler den Afrikaforscher Eugen Wolf abblitzen lässt: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt hier in Europa. Hier liegt Russland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.“ Bismarck sei überzeugt gewesen, dass die Konflikte, die sich das Deutsche Reich mit Kolonien einhandeln würde, zu groß wären. Das mache aus ihm zwar keinen Antikolonialisten, aber der deutsche Reichskanzler habe ganz andere Ziele verfolgt. Auch 1884 mit der Kongokonferenz in Berlin, auf der die Grundlagen für die Aufteilung Afrikas gelegt wurden.

„Bismarck wollte die Franzosen in Indochina und Nordafrika zur Ausweitung ihres Kolonialreichs motivieren, um sie den Verlust Elsass-Lothringens vergessen zu lassen.“ Er habe bei anderen den Kolonialismus also durchaus befördert, dabei aber machtpolitische Ziele in Europa verfolgt. Die deutsche Kolonialreichbildung ist eher von Kaufleuten und Abenteurern in Gang gesetzt worden. Adolf Lüderitz in Deutsch-Südwestafrika, Carl Peters in Deutsch-Ostafrika. Gegen den Widerstand Bismarcks. Die Flagge folgte schließlich dem Handel.

Das Urteil: „Der Vorwurf zeugt von historischer Unbildung und einer sehr unzulänglichen Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte“, sagt Münkler. „Wer Politik moralisieren möchte und sich mit Machtpolitik nicht einlassen will, findet in Bismarck sicher kein verehrungswürdiges Ideal.“ Es gebe zweifellos gute Gründe, Bismarck kritisch zu sehen, über all das könne man diskutieren. „Aber wer ihn nun zu einem großen Kolonialpolitiker macht, der hat weder von Bismarck noch vom Kapitalismus etwas begriffen.“

Was er von dem Vorschlag des Historikers Jürgen Zimmerer hält, die Hamburger Bismarck-Statue auf den Kopf zu stellen, um die Sehgewohnheiten zu brechen? Münkler lacht. „Oder ihn verpacken wie Christo den Reichstag? Die Ästethik des Augenblicks. Das kann man schon machen. Aber das ist natürlich ein Gag, der sich schnell erschöpft.“ Sehr viel sinnvoller wäre es, beide Seiten darzustellen und sich kritisch mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen – „mit all ihren Großtaten und all ihren Schandtaten“.

Darf Luther stehen bleiben?

Der Beschuldigte:Martin Luther (1483-1546), Augustinermönch, Theologie-Professor, Vater der Reformation, Bibel-Übersetzer.

Der Vorwurf: Luthers Judenhass, der noch jahrhundertelang nachhallen wird, sowie sein Verhalten während der Bauernkriege, in denen er sich auf die Seite der Herrschenden schlägt und „wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ hetzt.

Die Fakten: Hatte Luther anfangs eine gewaltfreie Judenmission und ihre gesellschaftliche Integration gepredigt, ändert er seine Meinung, als er die Reformation dadurch gefährdet sieht. Später wird er die Versklavung und Vertreibung der Juden fordern. Sein Judenhass ist zwar religiös begründet und weniger rassistisch, das Ergebnis bleibt dasselbe. Noch die Nazis werden sich auf Luthers Antijudaismus berufen. „Luther ist nach 1525 ein anderer als vor 1525“, erklärt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Aus dem jungen Reformator und Revoluzzer wird ein Politiker, der sein Werk bewahren will. Das gelte für seine judenfeindlichen Äußerungen, aber auch für seine Haltung während der Bauernkriege: „Dass die Bauern diese Auseinandersetzung verlieren werden, war klar.“ Luthers Handeln sei daher ein Akt politischer Klugheit, „denn wer sich wie Thomas Müntzer auf die Seite der Bauern stellte, kam mit unter die Räder“.

Das Urteil: „Eine vernünftige Beschäftigung mit Luther zeigt beide Seiten, seine Verdienste und seine Verfehlungen“, sagt Münkler. Es gelte, Luther in den historischen Kontext zu stellen. „Wenn wir unsere Vergangenheit nicht auch als Provokation unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses verstehen würden, bräuchten wir uns mit der Geschichte ja gar nicht mehr beschäftigen. Wir würden uns in den augenblicklichen Werturteilen suhlen“, meint Münkler. Die aktuelle Diskussion sei ja keine ästethische, sondern eine der politischen Pädagogik. „Es geht um die Frage, was ein Denkmal bedeutet. Und das Bedeuten ist eine Frage der Erklärung und des Brechens bestimmter narrativer Zusammenhänge.“

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Natürlich gebe es Leute, für die es keine Denkmäler geben dürfe, Nazi-Größen etwa. „Aber alles auszulöschen, als hätte es das alles nicht gegeben, führt dazu, dass man sich in einen Zustand der Kenntnislosigkeit manövriert, also das Gegenteil von dem, was man erreichen will.“ Kontextualisieren und informieren sei der einzig gangbare Weg.

Darf Marx stehen bleiben?

Der Beschuldigte: Karl Marx, (1818-1883), einflussreichster Theoretiker des Sozialismus und Kommunismus.

Der Vorwurf: Als 2018 in seiner Heimatstadt Trier zum 200. Geburtstag des Ökonomen ein Marx-Denkmal errichtet wird, erklärt der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe: „Für viele Opfer des Kommunismus ist es schwer erträglich, dass nun in einer westdeutschen Stadt wieder ein solches Denkmal errichtet wird.“ Und die Zahl der Opfer von Lenin, Stalin, Mao und Co. geht in die Millionen. Dazu kommen seine antisemitischen Äußerungen.

Die Fakten: Die Millionen Toten lassen sich nicht wegdiskutieren. Ob man Marx dafür in Haftung nehmen kann, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Bislang ohne eindeutiges Ergebnis. Und was ist mit seiner gern zitierten Schrift „Zur Judenfrage“, die vor antisemitischen Klischees nur so strotzt – und laut Hannah Arendt ein „klassisches Werk“ des „Antisemitismus der Linken“? „Genau das ist ein ungeeigneter Beleg für seinen Antisemitismus, denn es handelt sich um eine Rezension eines Buchs von Bruno Bauer“, sagt Münkler. „Richtig ist, dass sich Marx und Engels in ihren Briefwechseln gelegentlich in eine antisemitische Sprache hineingesteigert haben, die typisch für die damalige Zeit war. Das war aber nicht öffentlich.“ Zudem darf nicht vergessen werden, dass Marx von zwei angesehenen Rabbinerfamilien abstammt und sich – allen antisemitischen Äußerungen zum Trotz – in politischen Fragen immer wieder auf die Seite der Juden stellt. Auch seine Entscheidung, seine ökonomischen Analysen nicht in eine Typologie der Bourgeoisie zu gießen, sei eine Entscheidung gewesen, „nicht in antisemitisches Fahrwasser zu geraten“.

Das Urteil: Soll Marx stehen bleiben? „Natürlich“, sagt Münkler, „in all seiner Ambivalenz. Denn was manche Denkmalbeseitiger wollen, ist die Tilgung von Ambivalenz. Das ist ihnen zu anstrengend. Sie wollen eine Welt der Eindeutigkeit und der Sauberkeit. Darin gleichen sie den Putzfrauen, die Kunstwerke von Beuys ruinieren.“ Der große moralpolitische Waschlappen, der Geschichte immer wieder auf die Gegenwart trimme – von derlei Putz- und Säuberungsaktionen, um alles zu beseitigen, was einem nicht passt, halte er nichts. „Denn morgen kommen ja neue moralpolitische Vorstellungen und übermorgen wieder.“ Ob man das Denkmal, wie in Trier geschehen, von der KP Chinas bezahlen lassen sollte, steht auf einem anderen Blatt.

Darf Robert Koch stehen bleiben?

Der Beschuldigte: Robert Koch (1843–1910) entdeckt den Tuberkulose-Erreger und gilt neben Louis Pasteur als Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie.

Der Vorwurf: Schon die Einführung seines vermeintlichen Tuberkulose-Impfstoffs Tuberkulin endet im Desaster. In Ostafrika führt Robert Koch dann bedenkenlos Menschenversuche durch. Wenn es der Großen Koalition in Berlin ernst sei mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes, könne der Nobelpreisträger kaum noch als Vorbild dienen, sagt der Hamburger Afrikaforscher Jürgen Zimmerer und fordert eine Umbenennung des Robert-Koch-Instituts.

Die Fakten: Auf der Suche nach einem Impfstoff gegen die Schlafkrankheit testet Koch das arsenhaltige Atoxyl an Erkrankten in Ostafrika. Gefragt werden die Patienten nicht, jeder zehnte stirbt. Auch weil Koch die Dosis immer weiter erhöht, obwohl ihm die gravierenden Nebenwirkungen längst bekannt sind. Auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts heißt es dazu: „Kochs letzte Forschungsreise ist gleichzeitig seine unrühmlichste.“

Das Urteil: Von einer Umbenennung des Robert-Koch-Instituts hält Münkler nichts. „Koch ist eine der herausragendsten Gestalten. Dass ausgerechnet die Deutschen seinen Namen vermeiden sollten, während ihn der Rest der Welt feiert, ist lächerlich.“ Die Menschheit verdanke Koch, Pasteur und Co. so viel. „Es ist leicht zu sagen: Ja, ich profitiere selbstverständlich von dem, was die da gemacht haben. Dann aber zu erklären: Wie Koch und die anderen zu ihren Ergebnissen gekommen sind, das verurteile ich aufs Allerschärfste. Das ist pharisäerhaft.“

Sind die Deutschen in solchen Fragen etwa besonders eifrig? Klingt da möglicherweise der alte Satz „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ mit? „Genau, das ist deutsche Großmannssucht unter umgekehrten Vorzeichen. Entsprechend dem Nietzsche-Satz: ,Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden.‘ Man baut sich moralisch auf, um sich in Szene zu setzen“, sagt Münkler. „Ich will das freilich nicht allen unterstellen.“

Sein Eindruck: „Wer kein Schiff hat, um Menschen aus dem Mittelmeer zu retten, führt eben einen Namenskampf.“ Schon der Streit um Berliner Straßennamen habe ihn an George Orwells „1984“ erinnert. „Man will bestimmte Dinge der Vergangenheit gleichsam ungeschehen machen und schreibt deswegen die Geschichte die ganze Zeit um.“

Darf Wernher von Braun stehen bleiben?

Der Beschuldigte: Raketenforscher Wernher Freiherr von Braun (1912–1977).

Der Vorwurf: Wernher Freiherr von Braun leitet während des Zweiten Weltkriegs die Entwicklung der V2-Raketen, Hitlers „Wunderwaffen“, die den „Endsieg“ bringen sollen – und doch nur weitere sinnlose Opfer fordern.

Die Fakten: Während der Entwicklung der V2 werden 20 000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zu Tode geschunden. Der Einsatz der Vergeltungswaffen kostet weitere 8000 Menschenleben. Der Raketenforscher entgeht einer Bestrafung, weil er sich den US-Amerikanern andient und maßgeblichen Anteil an der Mondlandung hat. „Wernher von Braun ist ein Beispiel für die Karriere eines Techniker und Forschers, der bereit ist, mit jedem Teufel zu paktieren“, sagt Münkler.

Das Urteil: In unserer Liste wackelt der Raketenforscher am heftigsten. Die letzte Wernher-von-Braun-Schule wurde 2014 umbenannt, ein paar Straßen tragen weiterhin seinen Namen. Ist es sinnvoll, ihn noch immer zu ehren? „Heute würde ich das nicht mehr tun“, sagt Münkler. „Zur Geschichte Wernher von Brauns gehört aber eben nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch seine Bedeutung für die kollektive Identität“, erklärt der Politikwissenschaftler. „Er war für die Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre eine identitätsbildende Gestalt.“ Frei nach dem Motto: Der Mann auf dem Mond wäre ohne deutsche Hilfe nicht möglich gewesen.

„Ob man heute noch Schulen oder Straßen nach ihm benennen möchte, darüber muss vor Ort entschieden werden.“ Falls ja, müsse die Person Wernher von Braun in ihrer ganzen Zwiespältigkeit erklärt werden, fordert Münkler, der bei der Denkmal-Debatte ein „Breitmachen des guten Gewissens“ sieht und eine „Ahnungslosigkeit gegenüber den Ambivalenzen eines Lebens, das sich auf Sichtbarkeit eingelassen hat“.

Ganz unabhängig von Wernher von Braun: „Manches Denkmal könnte auch als Widerhaken dienen“, sagt Münkler, „als das Unsympathische, das einen zwingt, sich mit gewissen Aspekten der deutschen Geschichte zu beschäftigen.“ Kontext statt Tilgung.