Ob kecker Mephisto – hier von Klaus Maria Brandauer verkörpert – oder psychopathischer Massenmörder, eines ist sicher: Das Böse hat viele Gesichter. Quelle: Unbekannt

Weltweit untersuchen Forscher das Böse. Ihr Schluss: Gewalt ist so alt wie das Leben selbst.

Stuttgart - Das Böse ist überall. Wir sehen es im Fernsehen, wenn nordafrikanische Diktatoren ihr Volk niedermetzeln. Es begegnet uns in Zeitungen, wenn von Vätern berichtet wird, die ihre eigenen Töchter wie Tiere halten und vergewaltigen. Es steckt in Massenmördern, die Jugendliche in einem Feriencamp abschießen, als wäre die Welt ein Ballerspiel. Oder in Halbwüchsigen, die an S-Bahn-Stationen in einen Gewaltrausch geraten.

Die Taten erscheinen unfassbar, weil es für sie zunächst keine Erklärung gibt. Man fragt sich, was in den Köpfen des syrischen Herrschers Baschar al-Assad, des Vergewaltigers Josef Fritzl aus Amstetten oder des Massenmörders Anders Breivik aus Oslo vorgeht, dass sie solche Grausamkeiten ausüben. Sicher gibt es in Einzelfällen Krankheitsbilder, über die man schreckliche Handlungen rational herleiten kann. Doch die Mehrzahl der Gewaltverbrecher ist nicht krank: „Das Böse ist Teil der menschlichen Natur“, sagt die österreichische Psychiaterin Heidi Kastner, die als Gerichtsgutachterin von Fritzl bekannt wurde. „Es ist besser, diesen Fakt anzuerkennen.“

Doch was macht den Menschen zum Menschenfeind? Weltweit versuchen Forscher, dem Bösen auf die Spur zu kommen. Sie untersuchen die Hirnstrukturen von Gewaltverbrechern im Kernspintomografen, forschen an Menschenaffen nach den Wurzeln der Aggression und beobachten das Moralempfinden von Kindern. Ihr Schluss: Der Mensch ist geteilt in eine helle und in eine dunkle Seite, in Gut und Böse. So gibt es uns die biologische und kulturelle Evolution des Homo sapiens vor. Umstritten ist aber, ob und wie stark die Instinkte und das Verhalten vom genetischen Erbe beeinflusst werden.

Die Ursprünge für das lustvolle Töten

Wer in der Bibel nach den Wurzeln allen Übels sucht, findet es im ersten Buch Mose: den Sündenfall. Seitdem nahm das Böse seinen Lauf: Kain erschlug Abel, die Ägypter verfolgten das Volk Israel. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Evolutionsbiologen sind sich einig: Die Gewaltanwendung ist so alt wie das Leben selbst. Seitdem Lebewesen in der Lage sind, anderen zu schaden, ist auch ihr Verhalten aggressiv – um sich Nahrung zu verschaffen, sich zu verteidigen oder um Konkurrenten auszuschalten. Doch bildet der Mensch eine grausige Ausnahme: Wohl kein Tier empfindet Lust an der Qual seines Opfers. Das tut nur der Mensch.

Im ostafrikanischen Ruanda töteten 1994 Angehörige der Hutu innerhalb von 100 Tagen knapp eine Million Tutsi – sie schlugen ihnen mit Stöcken die Schädel ein oder zerhackten sie mit Macheten. 15 Jahre später interviewte der Konstanzer Neuropsychologe Thomas Elbert mit seinem Team Hunderte Männer in ruandischen Gefängnissen, die sich an dem Völkermord beteiligt hatten. Er wollte wissen, warum aus normalen Bürgern plötzlich Mörder wurden und hat nun die Antwort: „Jeder Mensch ist darauf angelegt, Gewalt auszuüben.“ Und nicht nur das: Er empfindet dabei sogar noch Lust. „Wir haben gefragt: Muss das Opfer bluten? Die Antwort lautete meist: ja. Wie ist das, wenn du tötest? Beim ersten Mal war es schrecklich, beim zweiten Mal ging es schon, und ab dem dritten Mal hat es Spaß gemacht, war die Antwort. Töten wurde zum Volksvergnügen.“

Die Ursprünge für das lustvolle Töten finden sich in der Zeit, als der Mensch zum Jäger wurde. Weil die tagelange Jagd entbehrungsreich war, entwickelte sich im Lauf der Evolution im Gehirn des Jägers schon vor dem Erlegen der Beute eine Art Belohnungssystem. Während der Jagd werden auch beim heutigen Menschen Glückshormone und Testosteron ausgeschüttet.

Manager kanalisieren die Lust an aggressivem Verhalten

In Folge dessen gewann der Jäger Lust an der Jagd an sich, nur um wieder in diesen Glückszustand zu geraten. Sie steigerte sich so weit, dass unsere Vorfahren in einen regelrechten Blutrausch geraten konnten. Untersuchungen steinzeitlicher Kulturen zeigten, dass Menschen auch Jagd auf ihre Nachbarn machten. Evolutionär war und ist das von Vorteil, weil es Macht bringt. Bis heute, so ist sich Elbert sicher, ist diese zielgerichtete Aggressionsbereitschaft im Menschen verankert, insbesondere bei Männern. „Frauen dagegen sind eher reaktiv“, so Elbert. „Sie schlagen oft nur zu, wenn sie selbst oder ihre Kinder bedroht werden.“

Dass die meisten sich dennoch unter Kontrolle haben, liegt daran, dass der Mensch im Laufe der Jahrtausende lernen musste, seine Aggressionsbereitschaft zu kontrollieren – oder anders auszuleben, etwa beim Boxkampf oder bei einem Ballerspiel am Computer. Elbert führt auch das Verhalten so mancher Manager auf diese Gene zurück: Sie kanalisieren die Lust an aggressivem Verhalten eher in rücksichtslosem Karrierewillen.

Es braucht nicht viel, um die Hemmschwelle wieder herabzusetzen und das alte neuronale Jagdempfinden zu aktivieren. Kinder im Alter von acht bis zehn lassen sich besonders leicht beeinflussen. Bei Erwachsenen reichen Alkohol oder sonstige Drogen. Oder aber, dass andere systematisch entmenschlicht werden – so wie in Nazi-Deutschland die Juden.

Sinn für Moral ist angeboren

Dabei ist der Mensch tief im Inneren sehr wohl fähig zu unterscheiden, was richtig und was falsch ist – laut manchen Forschern sogar von Geburt an. So glaubt der Berliner Neurologe Henrik Walter, dass das Gehirn bei Neugeborenen keine Tabula rasa ist. Vielmehr komme der Mensch mit einem angeborenen Sinn für Gut und Böse zur Welt. Verschiedene Tests belegen, dass Menschen moralische Entscheidungen treffen können, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein Zeichen, dass die Moral tief im Hirn verwurzelt ist. 

Allerdings wachse dieses Empfinden für richtiges und falsches Verhalten nicht von allein. Vielmehr sei der Moralsinn eine angeborene Struktur, die sich nur „unter den richtigen Bedingungen richtig entwickle“. Dabei spielen auch frühkindliche Erlebnisse eine Rolle – wenn etwa jemand als Kind häufig gedemütigt wurde. Hat das Kind zudem noch die genetische Veranlagung zur Aggression, neigt es später stärker zur Gewalt.

Der Schlüssel zu diesem Verhalten steckt an einer Stelle direkt oberhalb der Augen. Dort im präfrontalen Kortex vermuten Gehirnforscher den Bereich, der für das Gewissen zuständig ist: sozusagen die moralische Instanz. Der präfrontale Kortex ist eine Art Gegenspieler zum limbischen System, der Gefühlszentrale für Wut, Furcht, Lust, Flucht oder Verteidigung – all jenen Empfindungen, die zu aggressivem Verhalten führen können. Der präfrontale Kortex kontrolliert, bewertet und zügelt diese Gefühle. Fällt er aus, neigt der Mensch zum ungehemmten und aggressiven Verhalten.

Angstschaltkreise eingeschränkt oder gar nicht aktiv

Forscher vermuten, dass Gewalttäter ihre präfrontalen Hemmmechanismen bei Bedarf einfach ausschalten: Der amerikanische Psychologe Adrian Riane untersuchte als einer der ersten Mitte der 90er Jahre die Gehirne von Mördern. Das Ergebnis: Die Täter, die aus dem Affekt heraus einen Menschen getötet hatten, wiesen einen verminderten Stoffwechsel im Frontalhirn auf. Bei jenen, die den Mord kaltblütig geplant hatten, war der präfrontale Kortex zwar intakt, doch waren die Impulse, die vom limbischen System ausgingen, einfach zu stark.

Doch auch zu wenig Gefühl kann Menschen zu Mördern machen: „Das Moralempfinden kommt nicht ohne Emotionen aus“, sagt der Tübinger Verhaltensneurobiologe Niels Birbaumer. Ein Gesunder hat Angst vor der Strafe, bevor es zur Tat kommt. Gewalttäter mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, im Volksmund Psychopath genannt, empfinden so nicht. „Sie wissen wohl, was sie ihren Opfern antun und dass sie für ihr Tun ins Gefängnis kommen können“, sagt Birbaumer. „Aber sie fürchten nicht die Folgen .“

In den Bildern, die Kernspintomografen von den Gehirnen solcher Gewalttäter gemacht haben, sieht Birbaumer seine Theorie bestätigt: Es zeigte sich, das die Angstschaltkreise eingeschränkt oder gar nicht aktiv sind. Weswegen Birbaumer nun diesen Menschen das Fürchten lehren will.

Die Möglichkeit, sich gegen das Böse zu entscheiden

Seit rund zehn Jahren versucht er, Gefängnisinsassen dazu zu bringen, ihre defekten Angstschaltkreise wieder zu aktivieren – mit Hilfe von neurobiologischem Training. „Das ist wie bei einem Computerspiel, das man unbedingt gewinnen will“, sagt Birbaumer. Die Testpersonen stellen sich negative Ereignisse ihres Lebens vor und sehen währenddessen ihre Gehirnaktivität auf einem Bildschirm. So können sie verfolgen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Ob ein solch simples Training einen Mörder dauerhaft verändern kann, vermag auch Birbaumer nicht zu sagen. „Dazu müssten wir über Jahre hinweg ihren Werdegang verfolgen.“

Ist der Mensch also Sklave seines gewalttätigen Gehirns? Und wenn ja, inwieweit kann dann der Mensch für sein Tun verantwortlich gemacht werden? Geht es nach dem Bremer Hirnforscher Gerhard Roth, ist die Willensfreiheit eine Illusion und das Böse im Kopf ein biologisches Phänomen. Dem widersprechen viele Kultur- und Geisteswissenschaftler aber auch Verhaltensforscher wie Birbaumer, die darauf beharren, dass man das Handeln eines Menschen immer nur aus einer kulturellen Situation erklären kann.

Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. So gibt es laut dem Konstanzer Neuropsychologen Thomas Elbert viele Bedingungen, von denen abhängt, ob und wie ein Mensch gewalttätig wird: „Trivialerweise ist es eine komplexe Konstruktion aus biologischen Begebenheiten, die wiederum mit den Genen variieren, und dem sozialen Milieu.“ Dementsprechend müsse stets untersucht werden, was genau die Gewalt hervorruft, um sie zu bekämpfen. So ist sich Elbert sicher, dass sich die Neigung zur Aggression durch Erziehung, kulturelle und soziale Bedingungen verringern lässt.

Und es gibt ja noch die gute Seite: Denn nur der Mensch kann sich gut in seine Artgenossen hineinversetzen, kann Gefühle, Gedanken des anderen erahnen. Selbst wenn das Böse im Menschen steckt, so hat er die Möglichkeit, sich dagegen zu entscheiden.