Noch im Arbeitszimmer, demnächst dann aber mal weg: Reiner Zeyher, entpflichteter Dekan des Kirchenbezirks Vaihingen-Ditzingen Foto: Ralf Poller

„Das Thema Gerechtigkeit hat mich nie losgelassen“, sagt Reiner Zeyher. Nach Wehrdienst und Ingenieurstudium schwenkte er zur Theologie um. Nun hört der Dekan auf, der die Fusion zweier Kirchenbezirke managte und gegen den Erosionsprozess kämpfte.

Wenn sich dann doch wieder niemand aus dem Kirchenbezirk fand, der eine unkonventionelle Trauung übernehmen wollte – weil sie im Grünen sein sollte, das Paar ausgetreten war oder sonst etwas nicht mit der evangelischen Kasualpraxis konform ging – , hat es Reiner Zeyher eben selbst gemacht. „Und ich bin auch dafür eingestanden“, sagt er. „Wenn sich zwei Menschen kirchlich trauen lassen wollen, sag’ ich doch nicht: Unsere Ordnung lässt das nicht zu. Da muss man doch die Sehnsucht danach sehen, dass eine Ehe mehr ist als ein Ja, wenn’s drauf ankommt.“

„Wo der Geist der Herrn ist, da ist Freiheit“: Seinen Konfirmationsspruch hat Reiner Zeyher auf einer großen Stoffbahn in seinem Noch-Arbeitszimmer hängen. Bald wird ausgeräumt: Der Dekan des Kirchenbezirks Vaihingen-Ditzingen ist entpflichtet worden und zieht mit seiner Frau erst mal an den Gardasee. Die Freiheit beschäftigte Zeyher sein ganzes Berufsleben lang – als sozialethischer Orientierungspfeiler und als Verantwortungsauftrag für den Dienst am anderen, nicht als fehlinterpretierte Steigbügelhalterin für Selbstverwirklichungstrips. Zeyher versteht unter dem Begriff auch eine innere Freiheit, die loslassen kann, „weil sie nicht aus uns selbst kommt, sondern von Gott geschenkt ist“. Eng verknüpft war bei ihm das Freiheits- mit dem Gerechtigkeitsthema. Es war letztlich sogar mit Ausschlag für den beruflichen Richtungswechsel.

„Es war keine Diskussion, ob ich zur Bundeswehr gehe oder nicht“

Dabei hatte Zeyher schon ein Nachrichtentechnik-Studium abgeschlossen und einen Job bei SEL Stuttgart. Aber die prägende Zeit in seiner Studentengemeinde, mit der er bei Aktionen und Demos zu Friedens-, Schöpfung-bewahren- oder Nato-Doppelbeschluss-Fragen mitmischte, und Dietrich Bonhoeffers Verantwortungsethik bewirkten die Erkenntnis: „Ich kann mein Leben nicht als Entwicklungsingenieur verbringen. Die Themen Gerechtigkeit und und Frieden fand ich existenzieller.“

Zeyher hatte auch den Wehrdienst absolviert. „Ich war der älteste Sohn unter fünf Kindern, es war keine Diskussion, ob ich zur Bundeswehr gehe oder nicht.“ Er war Nachrichtentechniker bei der Luftwaffe und Ausbilder für Rekruten. „Ich habe mich aber auch da schon ein Stück weit als Seelsorger gesehen“, erinnert er sich. Spätestens mit Ausbruch des Afghanistankrieges 1979 brachte er das Reservist-Sein nicht mehr mit seiner Haltung in Einklang, auch wenn ihn der Kriegsdienstverweigererausschuss fast nicht gehen ließ. „Und es sich einfach machen und sagen: Ich bin jetzt auf der sicheren Seite, das geht auch nicht. Es gibt jenseits des Tötungsverbots, nach dem Christen leben sollen, eine Verantwortung, die uns unter Umständen zu Gewalt greifen lassen muss“, sagt Zeyher im Hinblick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine.

Ingenieur, Pfarrer, Hausmann

So oder so: weltfremd und blauäugig schlug er den neuen Weg angesichts seines Backgrounds nicht ein. „Ich hatte immer Zugang zu Menschen, die nicht im Elfenbeinturm der Theologie groß geworden sind“, sagt er. Zudem war er schon früh nicht nur Pfarrer, sondern auch Hausmann: Er teilte sich mit seiner Frau, ebenfalls Pfarrerin, zehn Jahre lang die Stelle und zog die Söhne mit auf.

Sein Weg führte über Erbstetten und Esslingen schließlich nach Vaihingen/Enz. Dort war er seit 2011 Pfarrer und Dekan. Schwierige Anforderungen warteten auf ihn, vor allem die Zusammenlegung der beiden Kirchenbezirke Ditzingen und Vaihingen. Ein aus Spar- und Personalzwängen richtiger Schritt, wie er als Mitinitiator fand und heute erst recht findet. „Es war nicht nur die Fusion zweier Verwaltungseinheiten, sondern auch die Erweiterung eines Resonanzraums für große Vielfalt. Und als große Einheit ist unsere Zukunftsperspektive einfach besser.“ Erst recht, weil der nächste Pfarrplan „weitere Schneisen und Wunden schlagen“ werde. Um den Bezirk zu wappnen, macht man jetzt aus sieben kleinen Distrikten drei große, in denen man einander besser aushelfen kann.

Den Kopf nicht in den Sand gesteckt

Dass Zeyher die Herausforderungen nicht nur als Verwalter, sondern als Gestalter anpackte, rechnen ihm viele Wegbegleiter hoch an: Sie charakterisieren ihn als mutmachenden, beharrlichen und umtriebigen Vorreiter, den auch aufreibende Begleitumstände nicht den Kopf in den Sand stecken ließen, der aber die Überzeugung vertrat: Mit Festhalten am Gewesenen geht die Kirche ihren Weg in die Zukunft nicht. „Wenn wir uns retromäßig zurückziehen, werden wir eine Sekte“, fürchtet der 65-Jährige. Seine Hoffnung: „Dass wir Kirche fürs Volk bleiben, die sich wandelt und den Fuß in der Tür zur Öffentlichkeit und zur Gesellschaft behält“.

Als stark in die Gesellschaft hinein verorteten Dekan sah Zeyher sich auch selbst. Ob im Schulterschluss mit dem Vaihinger Oberbürger Gerd Maisch und lokalen Akteuren, als sich die großen Fluchtbewegung 2015 anbahnte und man früh ein Netzwerk spann, oder ob als Sprecher des Forums Diakonie, der eine Demonstration in Ingersheim mitorganisierte, weil dort leerer Wohnraum nicht vermietet wurde. „Ich glaube, dass wir solche Zeichen in der Öffentlichkeit setzen, Solidarität bekunden und zivilgesellschaftlich mitgestalten müssen“, das ist Reiner Zeyhers Credo. „Ohne Moralsoße, nicht besserwisserisch und nicht, indem wir Ressourcen mit Strukturdebatten verschleißen. Sondern indem wir Menschen ernst nehmen, spirituelle Räume auftun und Seelsorge als wichtigste Aufgabe sehen.“