Beim Treffpunkt Foyer der Stuttgarter Nachrichten waren alle sechs Spitzenkandidaten zugegen. Vor den Landtagswahlen wird der Tonfall zwischen den Parteien schärfer. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Die Tonlage ist schärfer geworden: Ansgar Kemmann, Leiter der Initiative „Jugend debattiert“, zur deutschen Debattenkultur im Vorfeld der Landtagswahlen 2016.

Stuttgart – - Herr Kemmann, hat sich die Debattenkultur in Deutschland Ihrer Meinung nach im Laufe des vergangenen Jahres verändert?
Ja, die Schärfe der öffentlichen Auseinandersetzung hat einfach zugenommen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Verunsicherung im Land gestiegen ist, ja sogar Angst um sich greift. Innerhalb der vergangenen zwölf Monate hat sich die öffentliche Diskussion emotional deutlich aufgeladen.
Wie zeigt sich das?
Was man zu Beginn dieses Jahres schön sehen konnte: Wie schnell Falschinformationen die Runde machen. Da hatten wir den Fall des angeblichen Toten vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Und da war das Gerücht von der Entführung und Vergewaltigung des Mädchens Lisa. Es war bemerkenswert, wie schnell sich daraus Stürme von Empörung ergaben – besonders in den sozialen Medien. Das zeigt, was sich verändert hat: Man ist aufgrund der allgemeinen Verunsicherung und Besorgnis bereit, Dinge zu glauben, weil man sie für möglich hält – ohne sie nochmals zu prüfen.
Eine überraschende Entwicklung?
Aufgrund der politischen Entwicklung ist es nachvollziehbar, dass viele Menschen verunsichert sind. Und das ist nichts, was nur für eine Partei gilt oder die Anhänger einer politischen Richtung: Die Besorgnis und die Verunsicherung ziehen sich quer durch die Gesellschaft – bis hin zu Panikreaktionen.
Sie beziehen sich auf die Asylpolitik?
Ja, auf der einen Seite gibt es Debatten, die einigermaßen sachbezogen sind. Es gibt aber auch Debatten, die nur dazu dienen, Emotionen anzufachen. Die Tendenz hängt von der politischen Position ab. Was man sich klar machen muss: Es geht in der Politik immer um die Bildung von Mehrheiten. Und es gehört zum politischen Alltag, dass es Gruppenbildungen gibt, im Sinne von „Wir“ und „den Anderen“.
Lagerbildung vor den Landtagswahlen?
Das ist immer so, auch in den friedlichsten Zeiten. Das Problem: Durch die aktuelle emotionale Aufladung verschärft sich dieser soziale Mechanismus derart, dass Abwertungen und Ausgrenzungen überhand nehmen und Andersdenkende zu Feinden werden.
Wie lässt sich diese Debatte versachlichen?
Manchmal können schon informierende Aussagen, im Ton der Belehrung vorgetragen, heftige Gefühle hervorrufen – das müssten sie aber nicht. Besser ist es, Meinungsunterschiede festzustellen und kontrovers auszutragen. Und zu fragen: Was heißt das genau? Was spricht dafür, was dagegen? Die sorgfältige Prüfung der anderen Ansicht ist die Essenz kritischer Auseinandersetzung.
Woher rührt die Angst, sich mit populistischen Tendenzen auseinanderzusetzen? Zu den TV-Debatten vor den Landtagswahlen hatte der SWR die AfD anfangs nicht eingeladen.
Zunächst einmal resultiert sie daraus, dass man Sorge hat, im direkten Vergleich „alt auszusehen“. Das ist auch gar nicht so unwahrscheinlich: Weil die Verhältnisse kompliziert sind, muss man selbst kompliziert werden, um die Dinge zu differenzieren. Doch wenn sich Menschen bereits in einem Erregungszustand befinden, wollen sie keine Differenzierung, sondern Eindeutigkeit. Ein weiterer Aspekt ist die Sorge, Populisten oder sogar Extremisten eine Bühne zu bieten. Allein die Tatsache, sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen, führt ja zu einer faktischen Aufwertung. Es entsteht der Eindruck eines Gesprächs unter Gleichen. Der nächste Punkt ist, dass die ungeliebte Position mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält und dadurch eine Verstärkung erfahren kann.
Weshalb ist es dennoch wichtig, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen?
Tut man es nicht, macht das die Position unter Umständen noch interessanter. Es ist aber auch eine Frage der Schwelle: Nicht jede Partei, die bei wenigen Prozentpunkten liegt, muss beachtet werden. Liegen die Prozentzahlen höher und verbindet sich extreme Meinung mit Gewaltbereitschaft, muss man ihr entgegentreten – siehe die NPD.
Wie sieht es mit der AfD aus?
Das ist ein anderer Fall. Nicht alle AfD-Anhänger vertreten bewusst extremistische Positionen, im Sinne von außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung. Insofern tut man sich keinen Gefallen damit, diese Partei von vornherein auszugrenzen. Dadurch wird eher noch der Verdacht genährt, es werde nicht fair verfahren, oder man habe in Wahrheit keine Antwort auf berechtigte Fragen.
Wie kann man innerhalb der Debatte Populismus als solchen entlarven?
Indem man sachlich bleibt und ruhig nachfragt, nüchtern dagegen hält, Alternativen aufzeigt. Oft besteht die Versuchung, von oben herab zu reden oder mit einer polemischer Schärfe, die Beifall im eigenen Lager erzeugt, aber darüber hinaus nichts gewinnt.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ein Beispiel ist sicherlich Günther Oettinger mit seiner Äußerung zu Frauke Petry. Da werden Grenzen erreicht und zum Teil auch überschritten. Aber mir geht es gar nicht um Personen. Die Frage ist ja: Wie gehen wir alle in den öffentlichen Auseinandersetzungen miteinander um?
Ist der Diskurs beschädigt oder besteht noch die Chance, sachlich zu kommunizieren?
Auch wenn der Diskurs beschädigt ist, muss man auf diese Chance setzen. Wenn wir an Meinungsfreiheit und einem guten Miteinander interessiert sind, müssen wir daran glauben – auch, wenn es bisweilen finster aussieht. Das kann aber nicht allein den Politikern überlassen werden, sondern fordert im Grunde genommen jeden Bürger. Jeder kann in seinem Umfeld dazu beitragen, dass fair und sachlich debattiert wird.
 

Zur Person: Ansgar Kemmann

1963 geboren in Frankfurt am Main

1983–1994: Studium der Jura, Geschichte, Rhetorik und Philosophie in Tübingen, Genf, München und Tübingen.

Anschließend frei-berufliche Tätigkeit als Referent, Trainer und Berater. Darüber hinaus Lehraufträge an Universitäten, vor allem in Tübingen und München.

Seit 2002: Leiter Jugend debattiert, Gemeinnützige Hertie Stiftung.