Was ist 1977 in Stammheim passiert? Der Kommissar (Richy Müller, li.) interviewt einen Journalisten (Christoph Hofrichter). Foto: ARD

Der jüngste Stuttgart-„Tatort“ von Dominik Graf stellt eine Menge Spekulationen zum Tod der RAF-Terroristen im Oktober 1977 in der JVA Stammheim an. Doch gibt es wirklich noch so viele Geheimnisse um den „deutschen Herbst“?

Stuttgart - Die Staatsmacht, die gemeinsame Sache macht mit ihren schlimmsten Feinden, dabei auch die eigenen Regeln des Rechts missachtet, hernach aber natürlich alles zu vertuschen sucht – dieses Thema beschäftigt den deutschen Filmregisseur Dominik Graf seit langer Zeit. Er ist ein Meister seines Fachs, pflegt eine anspruchsvolle Bildsprache und fordert stets den ebenso neugierig wie konzentriert mitdenkenden Zuschauer. Schon oft hat Graf reale Ereignisse zum Ausgangspunkt genommen, um daraus fiktionale Stoffe zu entwickeln, zum Beispiel in seiner DDR-Geschichte „Der rote Kakadu“ oder jüngst „Am Abend aller Tage“ über den Gurlitt-Kunstskandal. Seine Filme gehören zum Besten im deutschen Fernsehen.

Selten aber sind die Grenzen zwischen gesicherten Fakten und Fiktion in einem Graf-Film so fließend gewesen wie am vergangenen Sonntag beim Stuttgart-„Tatort“ namens „Der rote Schatten“. Die komplizierte Geschichte um einen früheren Spitzel und Kronzeugen der Polizei, dessen langjährige Straftaten (Missbrauch, Vergewaltigung, Mord) gedeckt werden, um nicht noch viel schlimmere Staats-Straftaten in der Vergangenheit neu aufkochen zu lassen, war zunächst die Fiktion, so wie in anderen Krimis auch.

Für die einen ist es Kunst, für die anderen Statement

Doch über besagte Vergangenheit entstand die „Tatort“-Verbindung mit (angeblich) historischer Realität: Graf ließ rein formal zwar offen, wie es nun wirklich war, letztlich aber legte sein Film sehr suggestiv die These nahe, dass Agenten des Staates am 18. Oktober 1977 im Hochsicherheitstrakt Stammheim die RAF-Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller umgebracht und dies als Selbstmord inszeniert hätten (Möller überlebte schwer verletzt). Im „Tatort“ wurden diese Szenen im Stil historischen Bildmaterials nachgespielt. Ist das nun noch Kunst oder schon Statement? Darüber wird nun diskutiert. Der Publizist Stefan Aust, selbst Autor von RAF-Studien, warf der ARD in der „Bild“-Zeitung vor, Verschwörungstheorien zu verbreiten.

Tatsächlich kursierten Mordtheorien um das Stammheimer Geschehen bereits unmittelbar nach dem 18. Oktober besonders in jenen Kreisen, die mit den antikapitalistischen Zielen der RAF Sympathie hegten, wenn auch vielleicht nicht mit deren Mitteln. Genährt wurden diese Theorien von Umständen der Tat, zum Beispiel der zeitlichen Nähe zur Befreiung einer Lufthansa-Maschine aus der Gewalt von palästinensischen RAF-Unterstützern in Mogadischu durch Spezialkräfte der Bundeswehr, oder durch Zweifel, ob sich Baader tatsächlich eigenhändig durch einen Genickschuss hat das Leben nehmen können.

Tatsächlich waren die Ermittlungen unmittelbar nach der Todesnacht von Stammheim von mancherlei polizeilichen Schludrigkeiten geprägt, die aus heutiger Sicht nur notdürftig mit der Dramatik der Situation und Überforderung zu erklären sind. Allerdings hat es in den Folgewochen vielfache Untersuchungen aller Details nicht nur durch Polizei, Bundeskriminalamt und Staatsanwälte gegeben. Auch die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben den Fall 1978 untersucht und die Selbstmorde bestätigt. Gerade auch der Zeitpunkt der Taten legt sie nahe: Um 0.40 Uhr hatte der Deutschlandfunk die Befreiung des Flugzeugs in Somalia gemeldet; die RAF-Anführer besaßen in ihren Zellen Radios.

Nach einer anderen Theorie gab es Komplettüberwachung

Zudem hatte, wie später Aussteiger angaben, die RAF-Spitze ihren Unterstützern Selbstmorde angekündigt für den Fall, dass ihre Freipressung durch diverse Aktionen misslingen würde – einerseits aus Verzweiflung über ihre dann offenbar völlig aussichtslose Lage als langjährig Inhaftierte, andererseits als letztes Fanal für die Sympathisantenszene (so die Angaben beispielsweise von Brigitte Mohnhaupt und Peter-Jürgen Boock). Die Kommunikation der RAF-Führer aus dem Gefängnis heraus funktionierte tatsächlich (Graf stellt das im Film infrage) über deren Vertrauensanwälte, die von Baader und Ensslin in Briefen mehrfach als „Mittelsmänner und Gehilfen“ bezeichnet wurden. Dazu waren eigens RAF-Sympathisanten als „Kanzlei-Gehilfen“ in den Anwaltspraxen stationiert. Ein Versteck für eine Pistole in einer „Handakte“ wurde später sichergestellt.

Ebenfalls im Graf-„Tatort“ wurde noch eine weitere Möglichkeit erörtert: ob die Behörden womöglich von den Suizid-Absichten der RAF-Spitze wussten und sie einfach gewähren ließen, um auf diese Art die Spitzenterroristen los zu sein. Tatsächlich gibt es wohl Akten, die Abhöreinrichtungen in den Gefängniszellen dokumentieren. Geht man von einem permanenten Abhorchen des Geschehens in den Zellen durch JVA-Beamte aus, müssten diese natürlich auch in der Nacht akustisch die Aktionen registriert haben. Stefan Aust vertritt die Ansicht, dass es noch heute Tonbänder gibt – unter Verschluss.

Ob man dies oder anderes glaubt, ist aber letztlich gar nicht mehr Frage von Fakten oder Wissen, sondern mehr Teil der jeweiligen Weltanschauung. Wer glaubt, dass „der Staat“ im Terrorherbst 1977 selbst Teil irgendeiner Verschwörung war, wird immer Details finden, die ihm irgendwie ungeklärt oder geheimnisvoll erscheinen. Alle anderen dürfen sich zumindest wundern, dass auch vierzig Jahre nach den Ereignissen die Täter von einst noch immer so viele Faszination und Fabulierkunst auf sich ziehen. Ihre Opfer dagegen – und das waren nicht nur Arbeitgeberpräsidenten oder Bundesanwälte, sondern auch Polizisten, Fahrer, zufällige Passanten, nicht zuletzt lebenslang traumatisierte Entführungsopfer – haben es da deutlich schwerer.