Bevor es das Internet gab, gab es 150 Folgen der anzüglichen TV-Spieleshow „Tutti Frutti“ Foto: dpa

Auf der einen Seite locken umstrittene Dating-Shows das Fernsehpublikum. Auf der anderen Seite sensibilisiert die Metoo-Debatte nicht nur Programmmacherinnen für einen anderen Umgang mit Nacktheit. Wie passt das zusammen?

Stuttgart - Die Werbung weiß das schon lange: Nackte Haut erhöht die Aufmerksamkeit. Deshalb hatte auch „mindestens die Hälfte der klassischen TV-Skandale mit Sex zu tun“, sagt Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger. Den Auftakt dieser Chronik markierte 1961 die entblößte Brust von Romy Schneider in „Die Sendung der Lysistrata“ (ARD). In den Siebzigern gerieten angesichts der nackten Brüste von Ingrid Steeger im Comedyformat „Klimbim“ (1973 bis 1979) nur noch männliche Jugendliche in Wallung. Sex im Fernsehen war laut Hallenberger ohnehin stets „Sex aus männlicher Sicht. Heutzutage, da YouPorn in dieser Hinsicht alle Wünsche erfüllt, lohnt es sich für das Fernsehen nicht mehr, noch auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen.“

Tatsächlich wird Nacktheit im Fernsehen seltener, jedenfalls auf den wichtigen Sendeplätzen der großen Programme. Früher wurden Autoren bei Drehbuchbesprechungen regelmäßig aufgefordert, noch eine knackige Sexszene einzubauen; heute findet der Sex im Fernsehfilm in der Regel unter der Decke statt. Ursache, glaubt Hallenberger, sei ein neuer Puritanismus: „Sex im Film oder in der Werbung war das Symbol eines den Sinnen und der Welt zugewandten Lebens, in dem Lust und Genuss im Vordergrund standen. Diese Zeiten sind vorbei; nackte Haut hat für viele Zielgruppen keinen Reizwert mehr oder ruft sogar Ablehnung hervor, und natürlich hat sich auch in den Redaktionen das Bild der Geschlechterrollen geändert.“

Früher ein Fall für den Jugendschutz

Während Sex früher regelmäßig ein Fall für den Jugendschutz war, kümmert sich die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen der Privatsender laut Joachim von Gottberg heute um ganz andere Dinge, allen voran „um TV-Formate, die Kinder oder Jugendliche dazu animieren könnten, gefährliche Mutproben nachzuahmen.“ Die Ursachen für die Zurückhaltung der TV-Sender sieht der FSF-Geschäftsführer unter anderem in der Gleichberechtigung und der Veränderung der Männerrolle: „Wenn bei der FSF ein Ausschuss mehrheitlich männlich besetzt ist, haben Sexfilme deutlich schlechtere Karten, weil Männer in einer Art vorauseilendem Gehorsam viel empfindlicher reagieren; Frauen sehen das meist deutlich lockerer.“

Dazu passt, dass die These vom neuen TV-Puritanismus von gleich mehreren Fernsehfilmchefinnen bestritten wird. Heike Hempel, stellvertretende Programmdirektorin des ZDF, Barbara Buhl, Leiterin der WDR-Programmgruppe Fernsehfilm und Kino, und Barbara Biermann, Leiterin der SWR-Hauptabteilung Film und Doku, bezweifeln übereinstimmend, dass Nacktheit aus dem Fernsehen verschwinde. Besonders deutlich wird Christine Strobl, Geschäftsführerin der unter anderem für die Donnerstags- und Freitagsfilme im „Ersten“ verantwortlichen ARD-Tochter Degeto: „Das ist Nonsens. Nacktheit findet ganz selbstverständlich statt, wenn sie erzählerisch Sinn macht. Nacktheit des Tabubruchs wegen oder aus voyeuristischen Gründen interessiert uns nicht.“ Hempel widerspricht zudem der Vermutung, Frauen in Schlüsselpositionen hätten maßgeblichen Anteil daran, dass es weniger Nacktheit gebe.

Anderes Rollenverständnis ändert Blick auf Sexszenen

Es gehe in den Filmen und Serien immer darum, „wie Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität erzählt werden; und wie die Haltung der Figuren dazu ist.“ Biermann zählt eine ganze Reihe jüngerer SWR-Produktionen auf, „die ganz offen mit Nacktheit und Sexualität umgehen“, darunter der Stuttgarter RAF-„Tatort“ von Dominik Graf („Der rote Schatten“) oder das Amour-fou-Drama „Sag mir nichts“. Buhl bestätigt immerhin, dass sich „durch ein verändertes Rollenverständnis von Männern und Frauen auch die Darstellung von Sexualität verändert hat. Heute wird anders erzählt als in früheren Fernsehfilmen.“ Yvonne Weber, Redaktionsleitung Deutsche Fiction bei ProSiebenSat.1, kann der These vom Rückgang der Nacktheit schon eher folgen und bringt einen ganz anderen Aspekt ins Spiel: „Die Digitalisierung hat auch bei diesem Thema eine Trendwende eingeleitet. Wir erleben immer häufiger, dass viele Schauspieler Vorbehalte haben, sich nackt zu zeigen, denn inzwischen weiß jedes Kind: einmal im Netz, immer im Netz.“ Gerade für Schauspielerinnen wäre weniger Nacktheit im Fernsehen vermutlich eine gute Nachricht; fast immer sind sie es, die sich unter die Dusche stellen müssen.

„Es ist nie einfach, nackt zu spielen“, bestätigt Barbara Auer: „Buchstäblich nackt zu sein – und das ja immer inmitten angezogener Menschen am Set –, erfordert viel Mut. Trotzdem gehört natürlich auch Nacktheit zu unserem Spiel, wenn sie erforderlich ist.“ Voraussetzung dafür seien jedoch „absolutes Vertrauen und eine eindeutige Verabredung.“

Erotik: Muss es auch hinter der Kamera knistern?

Schauspielerinnen berichten allerdings auch von Fällen, in denen sich Regisseure nicht an diese Verabredungen gehalten hätten, weil zum Beispiel versichert worden sei, dass die Nacktheit im fertigen Film nur zu erahnen sei – „und dann ist doch alles zu sehen gewesen“. Eine andere stellt fest: „Niemand sagt dir, dass du deiner Karriere schadest, wenn du dich nicht ausziehst, aber das ist auch gar nicht nötig, weil du dir diese Frage selbst stellst.“

Hans-Werner Meyer, Vorstandsmitglied im Bundesverband Schauspiel, glaubt mit Hinweis auf Serien wie „Babylon Berlin“ (Sky/ARD) und „Bad Banks“ (Arte/ZDF) ohnehin nicht, dass das Fernsehen prüder geworden sei. Er hofft allerdings, dass „die Zeiten, in denen ein Regisseur eine Schauspielerin unter Druck setzt, damit sie sich auszieht, vorbei sind“.

Etwaige Zusammenhänge zwischen einem Rückgang der Nacktheit und der Metoo-Debatte weist TV-Kritikerin Klaudia Wick (Deutsche Kinemathek) jedoch zurück: „Es gibt einen missbräuchlichen Umgang mit Frauen am Set, weil männliche Regisseure offenbar der Meinung sind, es sei für ihren Film von Vorteil, wenn es auch hinter der Kamera erotisch knistert. Die Frage, ob die Filme jetzt prüder werden, weil Schauspielerinnen sich gegen diesen Missbrauch wehren, empört mich, denn sie vermischt zwei völlig unterschiedliche Dinge. Es geht darum, dass sich die Schauspielerin am Set sicher und selbstbestimmt fühlen kann. Nackt und angezogen.“