Königstochter im tiefen Wald mit Rehen: So stellt man sich ein deutsches Märchen vor. Foto: May-Britt Winkler

Am 26. Februar ist der Erzähle-ein-Märchen-Tag. Aber diese alten Geschichten voller Gewalt und Rollenklischees sind heute so umstritten wie selten. Was Forscher sagen.

München - Es war einmal . . . das Märchen. Das wird gefeiert, am 26. Februar, am internationalen „Erzähle-ein-Märchen-Tag“. Jahrhundertelang wurden diese fantasievollen Geschichten nur mündlich überliefert, bis die Brüder Grimm 1812 die erste gedruckte Märchensammlung zum Klassiker machten. „Das Erzählen von Märchen bietet tolle Chancen für menschliche Nähe und Geborgenheit, für Spannung und Entspannung“, findet Professor Dieter Frey, Leiter des Center for Leadership and People Management an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Herausgeber des Buchs „Psychologie der Märchen“.

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Wie Märchen in schwierigen Zeiten helfen

Tatsächlich versammelten sich jahrhundertelang Jung und Alt und lauschte den Erzählungen über sprechende Tiere, schöne Müllerstöchter und heldenhafte Königssöhne. Auch heute noch findet sich in fast jedem Haushalt ein Märchenbuch, doch manch besorgte Eltern bangen um die Träume ihrer Kleinen. Als zu brutal empfinden sie es, wenn die Hexe in den Ofen geschubst oder ein Geißlein gefressen wird. Paradox, mag der eine oder andere denken, wo doch oft schon Grundschüler „Squid Game“ auf Netflix schauen.

Kinder lernen, mit Furcht umzugehen

Märchenexperte Frey sieht nichts Schlimmes an den Ängsten, ausgelöst durch fiese Stiefmütter oder garstige Zwerge. Vorausgesetzt, Kinder werden mit Märchen nicht allein gelassen. So würden sie lernen, überhaupt mit Furcht umzugehen.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Ein rundum märchenhafter Spaziergang

Angelika Hirsch, Vizepräsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, glaubt, dass Kinder die Grausamkeiten eines Märchens meist gut wegstecken: „Ein Märchen hat natürlich immer eine Katastrophe, aber man kann sich darauf verlassen, dass es gut enden wird. Es gibt deutlich Gut und Böse. Das macht es leicht, sich zu identifizieren.“ Die wenigsten erkennen sich dabei im unmoralischen Rumpelstilzchen wieder, sondern eher im gutherzigen Helden.

Veraltete Rollenklischees stören viele

Ein weiterer Kritikpunkt ist das veraltete Rollenklischee vieler Märchen: Der tapfere Prinz errettet die hilflose Maid. Dabei ist Schneewittchen schon lange kein Vorbild mehr, wie sie unemanzipiert den Herren Zwergen die Bude sauber hält, und so mancher Königssohn möchte heute einfach lieber einen hübschen Jüngling ehelichen als klassisch die Königstochter.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Grabstein von Schneewittchen wieder aufgetaucht

Ute Gerhard, eine emeritierte Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und Autorin des Buchs „Frauenbewegung und Feminismus: eine Geschichte seit 1789“, beklagt die Festlegung auf traditionelle Frauenrollen in den Märchen des 19. Jahrhunderts: „Deshalb sollte man beim Vorlesen darauf hinweisen, dass heute die Welt eine andere ist, in der Mädchen eine andere Rolle einnehmen können.“

Das hässliche Entlein wird ein schöner Schwan

Doch sieht die Frauenforscherin durchaus auch Positives: Das hässliche Entlein wird ein schöner Schwan, oder das arme Aschenbrödel trotzt allen Widrigkeiten und angelt sich den Prinzen. „Das sind, über alle Geschlechter hinweg, Bilder, die ermutigen“, meint Ute Gerhard. „Gerade in der Auseinandersetzung mit diesen Zumutungen können Mädchen und Jungen sich selbst finden und erkennen.“

Wenn man sie richtig liest, haben alte Märchen fraglos zahlreiche moderne Ansätze, sagt Sebastian Bartoschek, Psychologe und Autor („Psycho im Märchenwald“): „Geschichten wie ‚Rotkäppchen‘ funktionieren auch heute mit der Message: Pass auf vor Menschen, die dir Gutes versprechen, dir aber schaden wollen.“ Schnell ist vom Wolf ein Bogen gespannt zu sexuellem Missbrauch, und deshalb empfiehlt Bartoschek, Kindern die Geschichten immer zu erklären.

Märchen haben oft eine aktuelle Botschaft

Märchen wie „Der Fischer und seine Frau“ haben ebenso eine aktuelle Botschaft: Du musst irgendwann einmal den Hals vollkriegen, sonst verlierst du am Ende möglicherweise alles. In „Frau Holle“ wird vor Augen geführt, wie man optimal mit seinen Nächsten umgehen sollte, selbst wenn es sich um suspekt erscheinende, sprechende Brote, also Fremde, handelt.

Und das Staatsoberhaupt in „Des Kaisers neue Kleider“, das splitternackt durch die Gegend marschiert, im Glauben, ein kostbares Gewand zu tragen, kann man herrlich ins Heute adaptieren, findet Psychologieprofessor Frey: „Wenn wir zum Beispiel die Missstände in der katholischen Kirche sehen, dann frage ich mich: Was ist da der Unterschied? Viele haben es gesehen, aber keiner hat etwas gesagt.“

Die Moral des Märchens ist also geblieben, wenn man sie denn erkennt. Geändert haben sich jedoch die Umstände. Die holde Maid wartet heute nicht mehr sehnsüchtig auf den galanten Prinzen, sondern begibt sich selbst auf die Suche, und so manch tapferer Herr seiner Zeit putzt sogar selbst das Klo. Wie auch immer, am Ende wird alles gut, ansonsten war es kein Märchen.

Märchen erzählen kann man lernen

Ausbildung
 Die Europäische Märchengesellschaft wurde 1956 gegründet, um das Märchengut aller Völker zu pflegen und zu verbreiten und damit zur Verständigung der Menschen untereinander beizutragen. Hier kann man sich zum professionellen Märchenerzähler ausbilden lassen. Infos unter www.maerchen-emg.de

Urheber
Man unterscheidet zwischen Volks- und Kunstmärchen. Das Volksmärchen wurde über Jahrhunderte mündlich überliefert. Es lässt sich kein bestimmter Urheber feststellen. Die deutschen Volksmärchen wurden aufgezeichnet von den Brüdern Grimm. Die Kunstmärchen stammen aus der Feder bekannter Autoren wie Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff.