Auf aktuell 30 Schießanlagen der Polizei Baden-Württembergs werden Polizisten in Bild und Ton gefilmt – ohne dass sie davon wissen. Dabei ist das Problem dem Innenministerium seit 2019 im Detail bekannt. Ein Datenschutzkonzept erarbeitet es aber jetzt erst.
Stuttgart - Die Lage ist ernst: Plötzlich steht die Polizistin in einer Kneipe zwei austrainierten Schlägern gegenüber. Der eine mit Messer in der Rechten, der andere mit einer Pistole. Ihr Kollege windet sich am Boden. Die Beamtin zieht ihre Waffe. Immer wieder. Findet den Druckpunkt am Abzug ihrer Dienstwaffe, findet ihre optimale Schusshaltung – und beherzigt die Tipps des Schießtrainers, der in einem der 50 Polizeischießkinos des Landes hinter ihr steht.
Aktuell haben in 30 von ihnen Trainer auch die Möglichkeit, das Übungsschießen mit Hilfe von Videoaufzeichnungen zu analysieren. Genau hier liegt das Problem der seit 2018 beschafften Anlagen: in der so genannten Schützenbeobachtungskamera. Die wird in den interaktiven Schießanlagen über das Modul „Geutebrück G-ST 1500“ gesteuert und zeichnet mindestens in der Zeit zwischen An- und Ausschalten der Schießanlage in Bild und Ton das Geschehen auf der Schießanlage auf. Heißt: dienstliche Gespräche mit Vorgesetzten, privater Tratsch, Fluchen, Kritik – alles. Das privat gesprochene Wort ist auf dem Marktplatz – ohne, dass die Polizisten das wissen.
Das Ministerium gibt den Schwarzen Peter weiter
Ein Datenschutzkonzept für den Betrieb der Anlagen hat das dafür zuständige Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen bislang nicht erstellt. Bei der Einführung des Systems seien nur vereinzelte Polizeidienststellen mit diesem Modell ausgerüstet worden. „Aus diesem Grund hat das Innenministerium – Landespolizeipräsidium kein landesweit einheitliches Datenschutzkonzept erstellt“, begründet ein Sprecher. Der Schwarze Peter bleibt bei den Polizeidienststellen hängen: Die müssten die örtlichen Personalräte einbinden. Zudem müssten die Schießtrainer den Einsatz einer – wohlgemerkt nicht auszuschaltenden – Ton- und Bildaufzeichnung mit den Trainierenden absprechen.
Ob und wie das möglicherweise geschehen ist, darüber liegen Innenminister Thomas Strobl (CDU) „keine Erkenntnisse vor“. Aber Gundram Lottmann, Vize-Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP): „Mir ist weder diese Praxis noch eine Dienstvereinbarung in einem der Präsidien bekannt.“ Fraglich ist zudem, ob eine solche Vereinbarung rechtlich zu halten wären.
Dabei war das Problem dem Innenministerium spätestens am 17. September 2019 bekannt. Im Protokoll einer landesweiten Besprechung von Ausbildern heißt es, das den Einsatztrainern „keine Abschaltung“ der Anlage möglich sei. „Im Anschluss an die technische Prüfung [ob und wie abgeschaltet würde] müssen die datenschutzrechtlichen Bedürfnisse geklärt werden. Ziel ist eine landesweit einheitliche Verfahrensweise.“ Die regionalen Polizeipräsidien erachten „eine zentrale Prüfung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen für erforderlich“. Zuständig dafür nach dem Protokoll: das Landespolizeipräsidium. Bis heute ist dort kein Konzept erarbeitet worden. Der Landesdatenschutzbeauftragte wurde nicht um Hilfe gebeten, um es zu erstellen.
Nach anderthalb Jahre hat das Ministerium immer noch kein Konzept
Dabei war das Konzept am 19. Mai 2021 wieder Thema einer Besprechung für Einsatztrainer. Auf der drei Lösungen diskutiert wurden: Anschaffung eines Ein- und Ausschaltknopfes – 2500 Euro pro Anlage. Anschaffung einer speziellen Funktion, um die letzte Aufzeichnung zu löschen – 800 Euro pro Anlage. Oder: „Die Kamera wird so eingestellt, dass der Schütze nicht aufgezeichnet wird, sondern nur die Wand und kein Ton“. Mit diesen Protokollen konfrontiert sagt GdP-Mann Lottmann: „Als Kriminalist schießt mir da ein Gedanke in den Kopf: Da will ein Täter Spuren verwischen.“ Der Personalrat und Gewerkschafter ist selbst erfahrener Ermittler.
Weil bis Ende kommenden Jahres auch die restlichen 20 Schießanlagen im Land umgerüstet werden, „wird aktuell ein landeseinheitliches Datenschutzkonzept erstellt“, versichert Strobls Ministerium. Das sei eigentlich aber gar nicht notwendig. Denn es fänden keine Verhaltens- oder Leistungskontrollen im Sinne des Landesdatenschutzgesetzes statt.
Finden sie doch, ist der Datenschutzbeauftragte des Landes überzeugt. Denn jede Schießübung sei zugleich auch eine Verhaltens- und Leistungskontrolle, sagt Stefan Brink: „Eine Überwachung von Beschäftigten mit Hilfe von Videokameras zum Zwecke der Verhaltens- und Leistungskontrolle ist unzulässig. Handelt es sich bei dem Arbeitgeber um eine öffentliche Stelle, wie eine Polizeibehörde, dann ergibt sich dieses Verbot aus Paragraf 15 Absatz 7 des Landesdatenschutzgesetzes. Werden Polizeibeamte bei vorgeschriebenen Schießleistungskontrollen gefilmt, so drängt sich auf, dass diese Bestimmung verletzt ist. Gegen eine Videoaufzeichnung auf Grundlage von Einwilligungen von Beschäftigten spricht besonders deren Mangel an Freiwilligkeit im Dienstverhältnis.“
Datenschutzbeauftragter des Landes widerspricht dem Ministerium
Der Datenschutzbeauftragte weiter: Generell gelte: Damit die Nutzung von Videokameras zulässig sei, müsse die Verarbeitung der so erlangten Daten stets erforderlich sein. Dies gelte auch für die Frage, wie lange eine Videoaufzeichnung gespeichert werde. „Soll beispielsweise eine Schießleistung dokumentiert werden, so muss diese nach Abschluss des Bewertungsverfahrens gelöscht werden. Eine längere Speicherung der Daten bedarf einer überzeugenden Begründung, die zudem allen Beteiligten gegenüber transparent dargelegt werden muss.“ Neben einem Löschkonzept bedürfe jede Videoüberwachung auch eines klaren Berechtigungskonzepts, welche die Zugriffsrechte und Zugriffszwecke auf das Videomaterial eindeutig und abschließend regelt und damit missbräuchlicher Verwendung vorbeugt. Von einem Bewertungs- oder Löschkonzept weiß Gewerkschafter Lottmann nichts.
„Etwaig gefertigte Aufnahmen werden nach Ablauf von 72 Stunden automatisiert gelöscht“, versichert das Innenministerium. Was die Frage aufwirft, warum nach drei Tagen? Denn: Würde der Schießtrainer mit den Polizisten die Übung sofort nach deren Abschluss besprechen, könnte die Aufzeichnung unmittelbar danach gelöscht werden. Oder: Individuell könnte jede Polizistin und jeder Polizist einen nur für sie und ihn freigeschalteten Zugang zu den Aufzeichnungen erhalten. So könnte er seine aktuellen mit früheren Schießleistungen vergleichen. In diesem Fall läge die Verantwortung, wann und ob die Aufzeichnungen gelöscht werden, einzig bei ihr oder ihm. Beide Optionen sind in Baden-Württemberg nicht einmal angedacht.
Nicht äußern will sich das Innenministerium, wer alles Zugriff auf die aufgezeichneten Daten hat. Sicher ist: außer den Einsatztrainern in jedem Fall auch die Mitarbeiter der anbietenden Firma. Die kann das Modul aus der Ferne warten und reparieren, wenn es defekt ist. Das Aufzeichnungsmodul wird von einem im französischen Bischheim angesiedelten Unternehmen hergestellt und betrieben. Wer aber genau von wo aus im Unternehmen und seinen weltweiten Filialen Zugriff auf die Anlage hat, möglicherweise unerkannt den übenden Polizisten zuschaut, ist unklar.
„Großer Lauschangriff auf die Polizei“
Im konkreten Fall kann das auch von Moskau, Ankara oder vom indischen Kerala aus erfolgen. Länder, in denen die Nachrichtendienste engen Kontakt zu Programmierern und IT-Spezialisten pflegen. Anders ausgedrückt: Tüftelt das Spezialeinsatzkommando (SEK) an neue Taktiken, um in ein Zimmer einzudringen, trainiert, Amok-Läufern zu begegnen, testen ihre Ideen im scharfen Schuss, ist unklar, wer den Polizisten dabei zu schaut und hört. Außer neuen Einsatztaktiken kann so ganz nebenbei auch die in Deutschland strikt geschützte Identität von Angehörigen der Spezial- und spezialisierten Kräfte enttarnt, die ohne Sturmhauben üben, zu schießen. Gefährdet sind so auch die Familien der Beamten. Ob es überhaupt ein Datenschutzkonzept mit dem Anbieter und seinen Zulieferern und Partnern für den Fernzugriff auf die Anlage gibt, darüber schweigen die Ministerialen ebenso.
Treffen die Vorwürfe zu, sei das ein bislang einmaliger Vertrauensbruch gegenüber der Polizei, sagt Lottmann: „Wir sprechen hier von möglichen Straftaten, von einem großen Lauschangriff auf die Polizei.“ Deshalb fordert die GdP Aufklärung – auch mit Hilfe des Landesdatenschutzbeauftragten.