Das Staatsorchester Stuttgart mit Teilen des Bühnenbilds zu Gounods „Faust“ auf der Opernbühne Foto: Martin Sigmund

Jossi Wieler brachte auf den Punkt, warum es am Nachmittag des Neujahrstages im voll besetzten Opernhaus Grund zum Feiern gab: Das Staatsorchester, sagte der Opernintendant, schenke das „Glück erfüllter Gegenwart“.

Stuttgart - Bei Helmut Lachenmann, so stellen wir uns das mal vor, klingelt das Telefon. Am Apparat ist jemand von der Oper Stuttgart, der freundlich anfragt, ob der Komponist, dessen Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ 2001 am Eckensee für Furore sorgte, der bedeutendste Musik schreibende Sohn der Stadt, vielleicht etwas schreiben könnte, etwas Kleines, Feines, aber irgendwie auch Repräsentatives, denn zieren solle das neue Werk den Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 425. Geburtstag des Staatsorchesters Stuttgart.

Hmmm, mag der 82-Jährige da gebrummt haben; er mag sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten haben, weil ihm das mit dem Feiern und Repräsentieren, sagen wir mal, nicht so besonders nahe liegt. Als er sich deswegen nachts einmal schlaflos im Bette wälzte, erinnerte er sich daran, dass Giuseppe Verdis letzte Oper dessen einzige komische war – und dass Rossini als Senior sein Hauptwerk durch lustige kammermusikalische Werke ergänzte, die er als „Alterssünden“ bezeichnete. Dort werden Kontrabässe zu Virtuosen, ja einmal maunzen sogar zwei Katzen im Duett. Über deren „Miau“ fiel Helmut Lachenmann in einen tiefen Schlaf – und träumte von einem Stück voller Fassaden, aber auch mit einem eingebauten Selbstzerstörungsmechanismus, der am Ende alles zersprengen würde, das aber mit großer, aus Sicht des protestantischen Pfarrerssohns geradezu katholischer Sinnenlust.

Morgens schrieb der Komponist das Geträumte auf, er schrieb – was er zuvor noch nie getan hatte, denn er ist ein Tüftler, bis zur Selbstzermürbung skrupulös – in einem wahren Rausch, und herausgekommen ist ein böse grimassierender Marsch in der heroischen Tonart Es-Dur, ein „Marche fatale“, der sich, freundlich zurückblickend auf Mauricio Kagels „Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen“, gleichsam selbst platt trampelt. Die lauten traditionellen Gesten und Rhythmen, das pompöse Anlauf-Nehmen, das Militaristische, die Fanfaren des Blechs, das unerbittliche Voranwollen, das suggestive Auf-der-Stelle-Treten: Das ist alles da. Es ist aber ein Virus im Programm, das gerade Metrum entgleitet ins ungerade, die Struktur strauchelt, Pausen wirken wie Staudämme, Röhrenglocken lärmen viel zu laut, die Streicher verselbstständigen sich, Wagner taucht ebenso empor wie Liszts „Liebestraum“. Einmal tönt aus erstarrter Form nichts als ein abgrundtiefer Tubaton, einmal muss das Orchester ein und dieselbe Stelle wieder und wieder spielen, als käme die Musik von einer Schallplatte mit Sprung, und am Ende nimmt der Dirigent nach viel Tam-Tam einen grünen Knallfrosch in die Linke, es macht kurz „knack“, und dann ist Schluss.

Lachenmann will das Publikum neu hören lehren

Sylvain Cambreling gibt Helmut Lachenmanns subversive Perversion des Repräsentativen nach dem ersten Durchgang gleich ein zweites Mal – so sehr begeistert sich das Publikum für den Achtminüter. Und spätestens beim wiederholten Hören wird deutlich, dass der Meister des Geräuschklangs, der Erfinder der „musique concrète instrumentale“, mit seinem „Marche fatale“ mitnichten das Frühere in Frage stellt, sondern auch hier unsere Ohren neu hören lehren will. Nur eben mit anderen Mitteln und mit einem (altersmilden?) Lächeln im Gesicht.

Ansonsten ist das Staatsorchester Stuttgart in seinem Jubiläumskonzert noch an etlichen seiner Hausgötter vorbei flaniert. Wagner (das Vorspiel zum dritten Akt des „Lohengrin“), Berlioz („Chasse royale et orage“ aus „Les Troyens“), Verdi (Ouvertüre zu „Die Macht des Schicksals“), dazu Arien von Mozart und Strauss mit der Sopranistin Mandy Fredrich: Bei all diesen Werken hörte man die Qualität dieses Orchesters, das ein Live-Ensemble, ein Theater-Klangkörper, eine ungemein vielseitige und wandlungsfähige Musikertruppe ist. Man hörte allerdings auch, dass diese Qualitäten gelegentlich mit Abstrichen bei der Präzision und der Koordination erkauft werden, dass das Orchester nach Fermaten nicht ohne Blessuren zum Tempo zurückfindet und dass die Phrasierung der Streicher oft ein wenig kurzatmig, ja manchmal gar atemlos geriet.

Das Staatsorchester ist das Fundament und die Seele des Opernhauses

Schwer ins Gewicht fiel dies aber nicht. Und spätestens bei Beethovens (leider im Bass ein wenig schütter besetzter) fünfter Sinfonie rundete sich das Programm auf feinste Weise. Treibt nicht auch hier ein Komponist das tumbe Hauptmotiv des ersten Satzes mittels Wiederholung und Variation ins Übergroße? Ist das Finale nicht ein Marsch, den Beethoven mit Widerhaken spickt – und wie bei Lachenmann ein Hin und Wider zwischen Bejahung und Verneinung, Anpassung und Verweigerung, Tradition und Revolte?

Virtuos, quicklebendig und mit großer Empathie für Tradition und Innovation bewegt sich das Staatsorchester Stuttgart seit jeher in diesem ästhetischen Spannungsfeld, spielt es bei jährlich 230 Vorstellung im Graben für Oper und Ballett, gibt es Sinfonie-, Kammer- und Kinderkonzerte. Das Staatsorchester ist das Fundament und die Seele des Opernhauses. Dass man dort immer wieder spüren kann, wie unmittelbar packend live dargebotene Bühnenkunst wirkt, ist ganz besonders sein Verdienst. Dem nächsten Vierteljahrhundert mit dieser universellen Spezialistentruppe darf man mit Freude entgegen sehen.