Szene aus „Das schweigende Mädchen“ in München Foto: Julian Roeder

In der Stadt, in der Morde der NSU verhandelt werden, brachte Johan Simons, Intendant der Münchner Kammerspiele, „Das schweigende Mädchen“ auf die Bühne. Auch wenn der Titel es nahelegt – es ist kein Stück über den Prozess, sondern über deutsche Verfasstheit.

München - In der Mitte ein Mann (Thomas Schmauser) in weißem Hemd. Weiße Krawatte, Anzug, schwarze Richterrobe. Er trägt eine Brille, das linke Glas ist braun gefärbt. Er schaut nach links, nach rechts, nach vorn ins Publikum. „Ihr Mandant will sich also nicht äußern, Sie sind also nicht hier, um Aussagen zu machen. Aber irgendjemand muss hier Aussagen machen. Meldet sich wer freiwillig? Sie?“ Im Ton Ungeduld, komische Verzweiflung. Leise, hysterische Lacher im Publikum. Thomas Schmauser spielt einen Richter, aber einen Prozess gibt es nicht am Samstagabend in den Münchner Kammerspielen. „Ich würde gerne zum Inhalt des Verfahrens zurückkehren“, sagt er später, „doch ich weiß noch nicht, was Sache ist, keiner sagt mir was.“

Der Mann kann einem fast leidtun, er richtet, aber einen Freispruch, eine Verurteilung wird es nicht geben. „Das Gericht lässt sich nicht beirren, aber es sieht nichts, da ist nichts, weil es nichts sieht, es sieht nichts, weil da nichts ist.“ Die Verhandlung über die rassistische Terrorserie, über Menschen, die in den vergangenen Jahren zehn Menschen in Deutschland ermordet haben, findet seit 2013 zwar in derselben Stadt statt, doch eben im Gerichtssaal, nicht auf der Theaterbühne der Münchner Kammerspiele.

Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat kein Stück über die Frau geschrieben, die im Verdacht steht, an aus Ausländerhass begangenen Morden beteiligt zu sein, oder über die Pannen des Verfassungsschutzes. Sie hat einen 220-seitigen Text geschrieben über Rechtfertigungshaltungen, über Albträume, rhetorische Verteidigungsstrategien, Verdrängungen, Heuchelei, religiöse Verbrämungen, Desinteresse an den Opfern. Die Stärke des Textes liegt in der Abstraktion, er untersucht das gesellschaftliche Klima, das geistige Erbe zweier Diktaturen, das bis ins Heute hineinreicht. Wo es konkret wird, nimmt Regisseur Johan Simons, der mit „Das schweigende Mädchen“ bereits seinen dritten Jelinek-Text inszeniert, Streichungen vor. Die Namen der Opfer sind im Programmheft verzeichnet.

Der Text, verteilt auf acht Schauspieler, begleitet von drei in einem „Konservatorium“-Haus sitzenden Musikern, wird am Samstag in Johanns Simons Uraufführung vor einem riesigen Schuldturm „Erbschaftsamt“ gesprochen. Links und rechts davon zwei pappmachéartige Hüttchen, „Seynshütte“ Ost und West – in Anspielung an die Schwarzwaldhütte des Philosophen Martin Heidegger, der sich während der NS-Zeit nicht gegen nationalsozialistischen Terror wendete. Neben solch einer Hütte liegt denn auch eine „Heimaterde“-Kiste. Stefan Hunstein, der zu Beginn die empörte Öffentlichkeit verkörpert, von einem Platz in der ersten Reihe aufgesprungen war, hatte wie alle Welt geschimpft, als die Pannen beim Verfassungsschutz ans Licht kamen, hatte gehöhnt über den „Verfassungsschützer, der in keiner guten Verfassung ist“, über einen „Schützer, der nicht schützt“, und über die, die „nichts gemerkt“ haben. Und, die Heimaterde-Kiste schleppend, hatte er gefragt, auf welchem gedanklichen Humus es möglich ist, dass heute solcher Terror geschehen kann. Darauf gibt es keine klare Antwort.

Links und rechts von Thomas Schmauser sitzen personifizierte Haltungen zu dem Skandal, Eltern, Zeugen, Engel, falsche Propheten. Manchmal wirken sie wie die drei Affen, die nichts sehen, hören, sagen. Steven Scharf neben dem Richter, ein Zeuge, der nichts gesehen haben will. Annette Paulmann und Hans Kremer in kurzärmligen Uniform-Kostümen an seiner Seite sitzend, sprechen von dem Sohn, der ihnen in Bomberjacke und Springerstiefeln, „ganz normal“ vorgekommen sei, sprechen als Mütter, die Angst haben, als Eltern, die alles tolerieren, nicht wissen wollen, heucheln – „auch die Polizei kann den Falschen suchen“.

Sie verteidigen sich, wollen sich selbst rein halten wie die Jungfrau, die immer wieder zitiert wird und die Wiebke Puls und Benny Claessens in schwarzen Gewändern verkörpern. Verkleidungen, die religiöse Posen erlauben, Verwandlungen von sich verhüllenden Angeklagten, die gleichzeitig an schwarze Madonnen und Figuren in Burkas erinnern – und, ganz am Rand in weißem Kleid, Risto Kübar mit Jesusbart, schweigend zumeist. Sie sprechen davon, dass früher alles besser gewesen sei, reden Paul Celan anspielend von „deutschen Meistern“, von Deutschland als „Exportweltmeister“, reden von Wortungetümen wie „türkisch-stämmig“, von „Migrationshintergründen“, „der Hintergrund macht den Menschen“, von Völkern, die keine Signale mehr hören. Sie sprechen von ihren „Lieblingsreligionen“, davon, wie sie (im doppelten Sinn) die Opfer bringen, fragen, vielleicht mordet dieses Land lieber als andere? Auch halten sie sich stur an Fakten fest: Waren es nun zehn oder zwölf Jahre, in denen die Morde geschahen?

Die hervorragenden Schauspieler interpretieren Jelineks Sprachschleifen so klar, so eindrücklich, immer mit einer die Welt nicht verstehenden Distanz im Ton, dass der Irrsinn der Realität, die Perfidie das Publikum zum verzweifelten Auflachen treibt. Je mehr sie reden, desto weniger sagen sie. „Ich rede nur vor mich hin, ich habe nichts zu sagen.“ Während man sich nach 1945 zunächst durch Schweigen zu retten suchte, versucht man nun durch unablässiges Diskutieren eloquentes (Nicht-)Reden zu retten. Vergebens. Es geht alles immer weiter, mit dem richterlichen „Guten Morgen“ geht der Abend los und geht er zu Ende und zugleich in die nächste Runde. „Morgen ist auch noch ein Tag“, die Wahrheitsfindung wird vertagt. „Jetzt ist die Spur weg, auch die vom Anfang dieses Satzes“, heißt es einmal, ihr dennoch nachzuspüren – dafür heftiger Applaus.