Szene aus „Das schweigsame Mädchen“ im Nord in Stuttgart Foto: Ferhat Eyne

Selbstbespiegelung in ironiefreier Zone: Elfriede Jelineks „Das schweigende Mädchen“ im Nord.

Stuttgart - Man ist kurz davor, Einspruch zu erheben, als der Applaus zu „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek im Theater Nord verebbt ist. Einspruch gegen die vergangenen anderthalb Stunden, die sich genau dort abgespielt haben, wo Einsprüche hingehören: im Gerichtssaal, in diesem Fall bei den Verhandlungen zum NSU-Prozess.

„Das schweigende Mädchen“ behandelt die Frage, wie es möglich war, dass das sogenannte NSU-Terrortrio über zehn Jahre hinweg aus einer fremdenfeindlichen Gesinnung heraus Mitbürger ausländischer Herkunft tötete, ohne dass jemand etwas davon bemerkt haben will.

Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, verweigert seit Beginn des Verfahrens die Aussage, während die Medien voll von Fragen und möglichen Antworten zu den Dingen sind, die sie verschweigt.

Im Fokus steht gerade nicht Beate Zschäpe

Im Fokus des Stückes steht aber gerade nicht Beate Zschäpe. Suchend und sezierend windet sich Jelineks Text durch fremdenfeindliche Ressentiments, Aussagen von Polizisten, die nichts gesehen haben wollen, und Beschreibungen von Tatverläufen. Aus der einen Angeklagten werden plötzlich viele Mitverantwortliche.

Dennoch hat man es hier nicht mit der dokumentarischen Aneinanderreihung von Zeugenberichten zu tun, sondern mit der Frage, welche Voraussetzungen in einem Land gegeben sein müssen, damit Organisationen wie der NSU über so lange Zeiträume hinweg unbemerkt agieren konnten. Rollen und Dialoge gibt es nicht. Nur Wörter, die fast zu Objekten werden, deren Bedeutung je nach Perspektive wechselt.

Was bedeutet eigentlich Migrationshintergrund? Ist es ein lebenslanger Hinter-Grund? Und was, wenn der Hintergrund in den Vordergrund rutscht?

Das Geschehen wirkt wie eine unendliche Spiegelung

Man kann sich kaum ein Bühnenbild vorstellen, das diese Textdynamik räumlich besser aufgreift als das von Christoph Rufer. Das Publikum sitzt sich in einer reduzierten Gerichtssaalinstallation in zwei verspiegelten Tribünenverschlägen gegenüber. Dazwischen ist die Bühne.

Dadurch wirkt das ganze Geschehen wie eine unendliche Spiegelung. So werden aus den acht Schauspielstudenten (Frederik Bott, Jessica Cuna, Alexey Ekimov, Lucie Emons, Laura Locher, Rudy Orlovius, Susanne Schieffer, Phillip Sommer) unzählige. Außerdem ist es gerade in einem Stück, das sich mit der Suche nach der Wahrheit befasst, elegant, den Zuschauer unablässig mit unterschiedlichen Perspektiven zu konfrontieren.

So gut sich Text und Bühnenbild ergänzen, so schwierig ist Alia Luques Inszenierung. Obwohl selbst die Kostüme Rollenzuweisungen vermeiden, indem die Schauspieler bis auf fleischfarbene Mieder unbekleidet sind, wird man das Gefühl nicht los, auf einer Kundgebung nackter Nazis gelandet zu sein.

Es fehlt völlig an Ironie und Zynismus

Texte über Fremdenfeindlichkeit werden teilweise mit einer solchen Überzeugung vorgetragen, als ob der eine oder andere Schauspielstudent tatsächlich versucht hätte, die Motivation rechten Gedankenguts nachzuvollziehen.

Es fehlt völlig an Ironie und Zynismus, ohne die das Stück zum Pegida-Ballett verkommt. Es hält niemandem den Spiegel vor, sondern wird zur reinen Selbstbespiegelung und Reproduktion von Vorurteilen. Da drängt sich einem das paradoxe Gefühl auf, Einspruch gegen ein Stück erheben zu müssen, das diesen Einspruch eigentlich selbst erheben sollte.

Nochmals an diesem Montag sowie am 3., 4., 11. und 12. Mai. Karten: 07 11 / 20 20 90