Beim Bungee-Jumping kann man Panik direkt ausleben Foto: Fotolia

Komplexe Dinge wie Gentechnik oder die Finanzkrise lösen bei vielen Menschen Panik aus. Zu Unrecht, sagt Soziologe Ortwin Renn – und erklärt, warum Bewegungsmangel viel eher ein Grund zur Sorge ist.

Komplexe Dinge wie Gentechnik oder die Finanzkrise lösen bei vielen Menschen Panik aus. Zu Unrecht, sagt Soziologe Ortwin Renn – und erklärt, warum Bewegungsmangel viel eher ein Grund zur Sorge ist.
 
Stuttgart - Herr Renn, wovor fürchten Sie sich am meisten?
Ich sitze zu viel, schaue zu viel fern und bewege mich zu wenig. Das wird negative Auswirkungen auf meine Gesundheit haben, fürchte ich. Auch wenn es im Flugzeug zu starken Turbulenzen kommt, fühle ich mich unwohl.
Sind Ihre Ängste berechtigt?
Die vier Volkskiller Rauchen, Alkohol, mangelnde Bewegung und unausgewogene Ernährung machen ungefährt 60 Prozent unseres gesamten Lebensrisikos aus. Meine Sorge, mich zu wenig zu bewegen, ist also berechtigt.
Und die Angst im Flugzeug?
Sie gehört zu den falsch eingeschätzten Risiken. Das Flugzeug ist sicherer als Bahn, Bus oder Auto. Das weiß ich im Kopf, aber der Bauch denkt oft anders.
Sie nennen eine solche überbewertete Angst Risikoparadox. Wie kommt es dazu?
Bei Flugzeugabstürzen gibt es meist keine Überlebenden, bei Autounfällen nehmen wir vor allem Blechschäden wahr. Im Auto sitzen wir selbst am Steuer, im Flugzeug müssen wir die Verantwortung dem Piloten überlassen. Dieser Kontrollverlust macht uns Angst. Andere Risiken können wir nicht richtig einschätzen, weil sie zum Beispiel neu sind.
Krankheiten wie die Vogelgrippe?
Genau, bei so etwas bricht gern Hysterie aus. Dabei sterben bei einer normalen Grippewelle regelmäßig bis zu 12 000 Leute, bei den modernen Grippen wie Vogel- oder Schweinegrippe liegen die Zahlen unter 100. Aber wir haben eine solche neuartige Grippe eben noch nie selbst durchgemacht und kennen auch keinen Betroffenen. Das erhöht die Angst. Gleiches gilt für Situationen, die wir nicht mit unseren Sinnen erfassen können.
Haben Sie auch hier ein Beispiel?
Pestizide, chemische Konservierungsmittel und Gentechnik im Essen können wir nicht sehen, fühlen oder schmecken. Deshalb machen diese drei Dinge vielen Angst, obwohl statistisch gesehen nur 1 bis 10 von 100 000 Menschen daran sterben. An unausgewogener Ernährung – also zu viel Fett und Fleisch, zu wenig Obst und Gemüse – hingegen sterben mehr als 10 000 von 100 000 Menschen.
Dinge wie Gentechnik sind aber auch sehr komplexe Themen, bei denen es dem normalen Verbraucher oft schwerfällt, sie zu verstehen.
Tatsächlich führt auch die Komplexität unserer modernen Welt dazu, dass wir Risiken falsch einschätzen. Wir können uns nicht 10 000 Ratten im Keller halten und testen, wie die Gentechnik auf sie wirkt. Weil uns die eigenen Erfahrungen fehlen, müssen wir auf das vertrauen, was Wissenschaftler, Politiker und als Vermittler die Medien dazu sagen. Wenn wir das nicht wollen oder die Aussagen der Experten sich widersprechen, verlassen wir uns auf unser Bauchgefühl. Und das reagiert alarmiert, sobald wir etwas nicht kennen oder mit unseren Erfahrungen schlecht einschätzen können.
Bildet eine Nachrichtensendung voller Katastrophen oder eine Tageszeitung voller Schreckensmeldungen denn die wahren Risiken ab?
Das Hauptproblem ist, dass wir heute sämtliche schreckliche Ereignisse wie Kriege, Überschwemmungen oder Hungersnöte mitbekommen, die irgendwo auf der Welt passieren. Bei sieben Milliarden Menschen ist das auch nicht anders zu erwarten. Vor 100 Jahren waren es nur 1,7 Milliarden, und es gab keine Medien wie das Internet, die uns an allem in Echtzeit teilhaben ließen. So entsteht bei uns der Eindruck, das Leben werde weltweit immer risikoreicher, obwohl das gar nicht stimmt.
Es liegt also an den immer komplexer werdenden Risiken wie Gentechnik, Finanzkrise oder Klimawandel und der permanenten Berichterstattung darüber, dass die Deutschen in den vergangenen 50 Jahren immer ängstlicher geworden sind . . .
. . . und das, obwohl Lebenserwartung, Wohlstand und Sicherheit ständig gestiegen sind. Ja. Aber die wenigen Risiken, die bleiben, werden umso mehr beachtet. Nehmen wir die Atomkatastrophe von Fukushima. Damals wurden in Deutschland mehr Jodtabletten verkauft als in Japan. Gleichzeitig können wir uns solchen abstrakten, aber durchaus echten Risiken wie der Finanzkrise oder dem Klimawandel nicht direkt aussetzen, unsere Furcht also nicht ausleben und auch nicht das Hochgefühl empfinden, wenn wir eine brenzlige Situation bewältigt haben. Deshalb suchen wir uns manche Risiken heute auch bewusst.
Was meinen Sie damit?
Der eine ballert in Computerspielen herum, der Nächste schaut jeden Sonntag einen Krimi wie „Tatort“, ein Dritter macht freiwillig Bungee-Jumping. Das sind alles Gefahren, die wir – teils virtuell – erleben und erfolgreich meistern können. Das erzeugt ein Glücksgefühl, und das brauchen wir.
Wenn der Mensch ein solch angeborenes Bedürfnis hat, sich zu fürchten: Was ist dann schlimm daran, wenn wir manche Risiken falsch einschätzen? Hauptsache, wir haben Angst, oder?
Das kommt auf das Risiko an. Ein Beispiel ist der 11. September. Danach sind viele Menschen auch auf langen Strecken vom Flugzeug auf das Auto umgestiegen. Die Zahl der tödlichen Verkehrsopfer ist dadurch um zehn Prozent gestiegen. Die Menschen wollten ein Risiko vermeiden und haben sich einem viel größeren Risiko ausgesetzt. Eine falsche Risikowahrnehmung kann uns also durchaus umbringen.
Risiken wie die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall zu sterben, werden oft in abstrakten Zahlen und Statistiken verpackt. Inwiefern führt auch das zu einer falschen Risikowahrnehmung?
Statistiken muss man richtig lesen und interpretieren. Ein um hundert Prozent erhöhtes Risiko, eine Krankheit zu bekommen, weil ich ein bestimmtes Medikament nehme, klingt zunächst einmal hoch. Wenn ich aber weiß, wie die absoluten Zahlen dazu sind, und es bedeutet, dass statt einer von 10 000 Menschen durch das Medikament zwei von 10 000 Menschen betroffen sind, kann ich mein persönliches Risiko viel besser einschätzen. Hinzu kommt, dass Statistiken meist in Worte gefasst werden. Sage ich „50 Prozent aller Ehen in Deutschland werden geschieden“, hinterlässt das einen anderen Eindruck als „jede zweite Ehe in Deutschland hält lebenslang“. Manchmal hilft es, eine Statistik einfach umzudrehen.
Was können wir sonst noch tun, um uns weniger oder zumindest nicht vor den falschen Dingen zu fürchten?
Es lohnt sich vor allem, seine individuellen Risiken zu kennen. Das heißt: Bevor man wegen eines weit entfernten Atomunfalls in Hysterie gerät, sollte man sich lieber mehr bewegen und gesünder ernähren.