Papier ist wieder in, weil es so sinnlich ist Foto: Leif Piechowski

Auch im digitalen Zeitalter hält der Mensch am guten alten Papier fest - denn im Gegensatz zu einem PC- oder Smartphone-Bildschirm ist es sinnlich.

Der Papierkorb ist bis zum Rand gefüllt. Im Postfach – angezeigt durch ein Briefkuvert – ist soeben eine Botschaft eingetroffen. Eine Schere muss her, um Textpassagen auszuschneiden. Einfügen lassen sich die Wortschnipsel per Klick auf ein Klemmbrett. Auch wenn uns im Computerzeitalter ein papierfreies Büro versprochen wurde, ist die Welt des Papiers im Digitalen seltsam präsent. Allerdings nur symbolisch. Das soeben Beschriebene geschieht bei der Textverarbeitung am Computer. Und da spielt echtes Papier zum Anfassen, Beschreiben, Zerreißen, Zerknüllen, Bemalen, Falten, Lochen, Glattstreichen, Stanzen, Prägen und Bekritzeln keine Rolle mehr.

Historisch betrachtet ist das eine Zäsur: Wie der Literaturwissenschaftler Lothar Müller in seinem 2012 erschienenen Fachbuch „Weiße Magie – Die Epoche des Papiers“ (Hanser-Verlag, München) darlegt, wurde das Papier vor rund 2000 Jahren in China erfunden. Der erst breiige, dann auf flache Bambussiebe geschöpfte und schließlich getrocknete Schreibgrund bestand zunächst aus Fasern des Maulbeerbaums, die mit Wasser gemischt wurden. Bald mengte man auch zerstoßene Lumpen, Fischernetze, Hanf und Bast bei. Außer zum Beschriften diente Papier in Asien der Gesundheits- und Körperhygiene und war Baumaterial. Japanische Papierwände zeugen bis heute davon.

Von China über Arabien nach Europa

De nächste Station war Arabien. Ins islamische Herrschaftsgebiet gelangte die Technik des Papierschöpfens wohl um das Jahr 750 n. Chr.. Wenig später belieferte die heute zu Usbekistan gehörende Stadt Samarkand die gesamte arabische Welt mit Papier. Im 12. Jahrhundert kam der kostbare Untergrund dann mit den Arabern nach Spanien und damit nach Europa.

Deutschlands erste Papiermühle wird auf 1389 datiert und befand sich in Nürnberg. Ende des 16. Jahrhunderts soll es hierzulande schon 190 Papiermühlen gegeben haben. Ein Jahrhundert später hatte das moderne Papier das alte Pergament als Schreibstoff weitgehend verdrängt.

Den entscheidenden Schritt vom handgeschöpften Bütten zum Industrieprodukt tat der Franzose Nicholas-Louis Robert durch die Erfindung der maschinellen Papierherstellung Ende des 18. Jahrhunderts. Als dann Friedrich Gottlob Keller 1843 entdeckte, dass sich Papier auch auf der Basis von Holzschliff herstellen lässt und die Fabrikanten somit unabhängig von den chronisch knappen, Hadern genannten Lumpen machte, war der Weg des Papiers zum Massenprodukt endgültig frei.

Der Computer hat das Papier verdrängt. Oder doch nicht?

Und heute? Da steht die digitale Welt aus Nullen und Einsen in dem Ruf, dem Papier den Garaus zu machen. Die Übernahme von Papierkorb, Schere und Briefumschlag im Textverarbeitungsprogramm der Computer ist Teil dieser Verdrängung. Die gelingt jedoch nicht überall. Banker, Geschäftsleute, Lehrer, Journalisten verwalten ihre Termine oft nicht (nur) digital, sondern notieren sie weiterhin ganz herkömmlich im handfesten Kalender. Sogar die hippen Notebook- und Laptop-Spazierenträger blättern in ihren Moleskine-Timern, kritzeln Gedanken, Ideen und Merksprüche in Notizbücher von Leuchtturm, Signum oder Pantone und platzieren neben ihren tragbaren Computern ledergebundene, in Filz geschlagene oder mit Fadenbindung zusammengehaltene Hefte, die aus der Zeit gefallen scheinen.

Diese nostalgischen Datenträger erinnern an Großmutters Schulsachen. Die linierten oder karierten Hefte waren weder gelocht noch zum Abreißen perforiert. Auch Raumfahrt-, Tier- und Sportmotive hatten dort nichts zu suchen. Die kartonierten oder gebundenen Hefte waren tintenblau oder schwarz, mal mit einem Gummiband versehen, mal mit einem Aufkleber für den handschriftlichen Eintrag des Namens, der Schulklasse und des Unterrichtsfachs.

In solchen Retro-Gewändern kehrt das Schreibpapier nun zurück, manches sogar in Gestalt des gelben Reclam-Heftchens. Wer es aufschlägt, findet weder Shakespeare-Sonette noch Schillers „Die Räuber“ abgedruckt, sondern Blankoblätter, die geduldig warten, persönlich gefüllt zu werden.

Der Erfolgskurs von Moleskine

Der in Marketingdingen ebenso geschickt wie erfolgreich agierende Notizbuch-Hersteller Moleskine bringt seine unbeschriebenen und vergleichsweise kostspieligen Produkte als eine Art Gegengift der Digitalisierung unters trendbewusste Volk. Ein cleverer Schachzug! Auf der Homepage der Mailänder Firma ist zu lesen: „In Zeiten der Informationsüberflutung brauchen wir alle ,leere Seiten‘, um nachzudenken, schöpferisch zu sein, Ideen zu entwickeln, Gedanken in Worte zu fassen. Dies gilt insbesondere für diejenigen von uns, die in der Kreativbranche arbeiten, stets online sind und sich für die digitale Welt interessieren.“ Das Altbewährte wird auf diese Weise an das spannend Neue geknüpft.

Das jungfräulich unberührte Blatt Papier soll’s richten. Wer es in Buchform bei sich führt, der büßt im Sog des Digitalen nichts von seiner göttergleichen Schöpferkraft ein. Was wohl der Autor Ernest Hemingway und der Künstler Pablo Picasso zu dieser Kampagne gesagt hätten, in der ihre Namen häufig genannt werden? Vermutlich nichts. Denn die von Moleskine gern ins Spiel gebrachten kreativen Köpfe mögen ihre Einfälle in ähnliche Büchlein notiert haben, aber sicher nicht in das Markenprodukt.

Die Marke mit dem Maulwurfsfell im Namen (englisch: moleskin) kam erst 1997 auf den Markt. Doch die Legende belebt das Geschäft. Die weltweit agierende Firma steigerte ihren Umsatz im Jahr 2013 um 11,5 Prozent auf 87 Millionen Euro.

„Moleskine kam genau zur rechten Zeit auf den Markt“, sagt Meike Lehmann. Für die Buchbinderin mit eigener Werkstatt im Stuttgarter Westen sind die normierten Notizbücher mitsamt ihren Nachbildungen und Varianten nichts weiter als moderne Industrieprodukte. Mit echtem Handwerk, das sich bei der Gestaltung nicht an DIN-Normen halten muss, und mit traditioneller Papierkultur habe das nichts zu tun.

Papier- eine überaus sinnliche Sache

Was also macht Qualitätspapier aus? Woran ist es zu erkennen? „An einer haptischen Oberfläche, auf der die Papierfaser zu sehen ist“, erklärt die Expertin. Hochwertiges Papier sei zudem weicher als etwa Digitaldruckpapier. „So ein Papier lebt nicht: Es ist weiß, glänzt vielleicht sogar. Gutes Papier dagegen zeigt eine matte Oberfläche und ist weniger kalt. Es riecht anders.“ Kurzum: Es appelliert an mehrere Sinne.

Geschätzt werden diese Qualitäten immer seltener. Das Wissen schwindet, je weniger Menschen mit gutem Papier Umgang haben. „In den Köpfen vieler Menschen steckt fest, dass Papier keinen oder nur geringen Wert hat“, sagt die Buchbinderin. „Zu vermitteln, welcher Wert und wie viel Arbeitszeit in Papier steckt, ist für Buchbinder eine Herausforderung.“ Dennoch erlebt Meike Lehmann, dass der Rohstoff und ihr Handwerk neue Beachtung erfahren. „Individuelle Aufträge steigen – von gestalteten Einladungskarten, aufwendig gebundenen Diplomarbeiten bis hin zu handgemachten Notiz-, Koch-, Gäste- und Tagebüchern.“

Eine unübersehbare papierene Fülle

Rund 3000 Sorten Papier werden allein in Deutschland hergestellt. Darunter Alt- und Aquarellpapier, Back-, Banknoten-, Baumwoll-, Bunt-, Bütten- und Butterbrotpapier, Dokumentenpapier, Fotopapier, Kopier- und Krepppapier, Löschpapier, Pack- und Pergamentpapier, Seidenpapier, Transparent-, Toiletten- und Thermopapier, Zeichen-, Zeitungs- und Zigarettenpapier. Für eine Buchbinderin ist vieles davon unbrauchbar. Die Auswahl bleibt dennoch enorm. „Bei der Wahl des Papiers habe ich keine Vorlieben“, sagt Meike Lehmann. „Das Endprodukt muss überzeugen. Da wirken Material, Idee und handwerkliche Umsetzung zusammen.“

Eine Papierart möchte sie dann doch hervorheben: japanisches Siebdruckpapier mit Urushi-Lack. Hat man es vor Augen, juckt es einem in den Fingern. Die sattschwarz gefärbte, matte Oberfläche hat durch ihr feines Linienrelief aus Lack eine geradezu stoffliche Qualität. Unwillkürlich streichen die Fingerkuppen über die dunkelroten Erhebungen. Ein Bogen kostet um 17 Euro.

Was macht Papier für Meike Lehmann kostbar? „Es ist ein faszinierendes Material, das sich bemalen, bedrucken, falzen, rillen, stanzen, bohren, prägen und auf vielfältige Weise weiterverarbeiten lässt.“ Papier könne Dinge veredeln. „Sie erhalten eine neue Wertigkeit. Und man hält etwas in Händen.“

Gefährdet durch Digitalisierung und Feuchtigkeit

Gefährdet ist der Stoff nicht allein durch die Digitalisierung. Auch Feuchtigkeit schädigt das Material, vor allem wenn sich Schimmel bildet. „Dann verformt es sich, die Handschrift oder die Druckfarbe löst sich ab“, beschreibt die Expertin den Auflösungsprozess. Als Fressfeinde bedrohen auch Silberfischchen und Kakerlaken die papierne Welt.

Das Gespenst vom papierfreien Büro ist da das kleinere Übel. Zumal Meike Lehmann daran ohnehin nicht glaubt. „Eine Illusion. Aus dem Internet wird viel kopiert und ausgedruckt, oft mehrfach, weil man die Unterlagen verlegt hat.“ Bei Dokumenten, die aufbewahrt werden müssen, hat Papier gegenüber der digitalen Technik bis heute die Nase vorn. „Papierdokumente halten länger und sind auch ohne Strom zugänglich“, so Lehmann. Und noch etwas: „Texte auf Papier kann man besser unterstreichen, markieren und mit Kommentaren versehen.“ Die Aneignung von Gedanken und die Auseinandersetzung damit gelingt durch die handschriftliche Bearbeitung eben doch am besten.