Auch Theaterinszenierungen werden Teil des Labors „Abschied von gestern“ im Nord sein – im Bild Wolfgang Michalek in „Wellenreiter“. Foto: Julian Marbach

Wie wollen wir leben? Wie können wir leben? Nach Antworten suchen Künstler im Theater Nord. Das Projekt „Abschied von gestern“ bietet unterschiedliche Spielformen, entdeckt werden auch die „Katakomben“ des ehemaligen Maschinenfabrikgebäudes – multimediale Überraschungen inklusive.

Stutttgart - Die Tanzparty tobt oben. Im Keller lagern die Schätze des Abends. Künstlerische Pretiosen, die darauf warten, entdeckt zu werden. Ein Hotelzimmer mit weiß bezogenen Betten zum Beispiel. Niemand ruht hier.

Passagen aus Judith Hermanns Erzählung „Hunter-Tompson-Musik“ werden eingesprochen: „Ich will nur wissen, weshalb Sie hier leben . . .“, fragt eine junge Frau den alten Hunter. Der antwortet: „Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen.“ Wohin er gehen wolle, insistiert die junge Frau. „Das ist eine völlig unnötige Frage“, sagt Hunter.

Doch an die Freiheit, gehen zu können und nicht anhaften zu müssen, ist der Abschied gebunden. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus . . .“ – der Wanderer aus Wilhelm Müllers/Franz Schuberts „Winterreise“ ist es, der das Unbehauste des Menschen schmerzvoll definiert.

Verena Wilhelm überträgt Musik von Johann Sebastian Bach auf ihren Körper

Teresa Smolik, in einem als Kostüm-Atelier gestalteten weiteren Kellerraum, singt von immerwährendem Abschied. Im nächsten Raum formt Shinoku Shimokawa Skulpturen aus Ton; Verena Wilhelm überträgt Musik von Johann Sebastian Bach auf ihren Körper. Die sensitive Imposanz der Komposition „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ aus der Matthäus-Passion wird physisch erlebbar. Wer sich auf den Parcours in die Tiefen der Spielstätte Nord begibt, wählt die Musik an dieser Station selbst.

Erinnerung, Rückblick, Abschied: Das Band, das alle künstlerischen Arbeiten in den zehn Kellerräumen hält, fasst auch eine Performances mit Elmar Roloff. Dieser, hinter einem alten Schreibtisch verschanzt, spielt Krapp aus Samuel Becketts Drama „Das letzte Band“. Und der hört „spätabends in der Zukunft“ seine auf ein Tonband gesprochenen Erinnerungen. Tote Erinnerungen, mit selbstironischer Distanz fixiert.

„Abschied von gestern“ zu feiern, dazu hatte Schauspiel-Intendant Armin Petras am Wochenende ins Nord geladen. Abschied zu nehmen von einer reinen Spielstätte, Willkommen zu sagen zum „Labor“ Nord. Zwei Monate lang wird die kleine Spielstätte des Stuttgarter Staatsschauspiels zur Plattform für unterschiedliche Spielformen. Schauspieler wechseln ihre Profession, treten als Filmer, Gestalter oder Regisseure auf.

Abschiede von einst vertrauten Menschen, von Lebenslügen

Kooperationen wie die mit der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst wurden geschmiedet. „Es geht um den Abschied von einer Gesellschaft, wie wir sie kannten“, spricht Armin Petras am Samstagabend zur Eröffnung das Motiv des Projektes an. Er ist neben dem Hamburger Sänger und Theatermacher Schorsch Kamerun der künstlerische Leiter des Labors Nord.

Aber es gehe auch um persönliche Abschiede: von einst vertrauten Menschen, von Lebenslügen. Vergessen sein soll aber nichts. Das Publikum wird eine Erinnerungsskulptur im Foyer des Nord gestalten – in und an einem rustikalen Holzregal stehen und hängen schon jetzt auf Zettel formulierte Anklagen an Politiker, Absagen an vergebliche Lieben, nicht fertig gestrickte Schals (weil die Liebe zerrann), Puppenkleidchen, Porzellangeschirr. „Wir leiden ein wenig darunter, dass es so viele Produktionen geworden sind“, bekennt Armin Petras.

Das Publikum kann sich über die Fülle nur freuen. Nichts bleibt, alles bleibt – Sphärenklänge begleiten die Stadtflaneure, die unter dem Sternenhimmel im Rosensteinpark gen Nord streben. Es ist das Finale eines Spaziergangs unter dem Titel „Nach Norden!“, geführt von einem Tabletcomputer und dem Schauspieler Christian Czeremnych. Am Schauspielhaus im Schlossgarten geht es am frühen Abend los, Stuttgarter Stadtareale aus dem Blick eines Fremden zu durchqueren.

Neue Blickrichtungen anregen, herkömmliche Werte hinterfragen

Texte begleiten die Tour, es geht um Vergänglichkeit, um Perspektivwechsel, um den Sinn von Hierarchien und ob man sie anzweifeln sollte, um Panik in einem etwas nervigen, weil überstrapazierten Teil, um Stadtgestaltung und um Irrtum und Wahrheit – da fehlt auch der Hinweis auf Hegels Wort auf dem Portal des Hauptbahnhofs nicht, dass „diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst“ sei.

Der Pariser Platz an diesem Abend: Leere, wenige letzte Einkäufer, Polizisten am Rand der trostlosen Szenerie. „Quo vadis, Europa?“, ist hier nur eine ironische Brechung. Der Spaziergänger fragt sich: Von wem auch immer wurde dieses Quartier Europaviertel benannt? Und dann – Richtung Nord voranschreitend – übers Tablet noch ein paar der biblischen Verheißungen zum Exodus, dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, denn „Stillstehen ist keine Option“.

Der Wille zu leben und nicht nur zu überleben, ist unausrottbar. Die aktuelle Völkerwanderung spricht Bände. Armins Petras’ Versuch, neue Blickrichtungen anzuregen, herkömmliche Werte zu hinterfragen, Bewusstsein zu stärken, ist eine Einladung an die Bürger dieser Stadt. Wer, wenn nicht die Kunst kann das leisten in Zeiten, in denen vielen politischen Akteuren nichts weiter einfällt, als in neuer Hitzigkeit schärfere Gesetze, striktere Verordnungen und härtere Strafen zu fordern.