Morrissey heute. Alles fein soweit? Foto: shorefire.com/roster

Der umstrittene, aber großartige Sänger Morrissey legt sein neues Album vor. Es ist, allen Vorbehalten gegenüber dem Musiker zum Trotz, ein tolles Werk.

Stuttgart - Man kann und darf die Geisteshaltung des britischen Popmusikers, militanten Vegetariers und der rechtsradikalen Partei For Britain nahestehenden Stephen Patrick Morrissey rundherum ablehnen und dementsprechend auch seine Alben boykottieren und seine Konzerte mit Missachtung bestrafen. Viele Menschen tun dies, wie jüngst sein längst nicht ausverkaufter einziger Deutschlandauftritt in Kölns nicht einmal größter Konzerthalle gezeigt hat oder die sehr reservierten Hinweise der Musikfachpresse auf sein neues, an diesem Freitag erscheinendes Album. Und man muss sogar die ewig alte Gretchenfrage hintanstellen, inwieweit man Künstler und Werk voneinander trennen darf, wenn man sich Morrisseys aktuellem Werk widmen will.

Werk und Wirken eines Künstlers

Denn es ist, wie zuvor schon sein Wirken bei der legendären Britpopband The Smiths, wie viele seines bisherigen Dutzends an Soloalben und wie zuletzt sein letztes Album mit eigenen Songs, „Low in Highschool“ von 2017, ein wieder einmal ganz grandioses Werk geworden. „I am not a Dog on a Chain“ ist es in bereits provokanter Koketterie betitelt, doch der gleichnamige Song ist unter den elf neuen Titeln sogar einer der wenigen schwächeren. Ansonsten legt Morrissey nämlich wie die Feuerwehr los. Gleich die ersten drei Stücke zeigen ihn von der allerbesten Seite: „Jim Jim falls“ ist eine federnd leichte Reminiszenz an den Achtziger-Jahre-Synthie-Popwave der klassischen britischen Schule, „Love is on it’s Way out“ grüßt in Richtung Depeche Mode, die Vorabsingle „Bobby don’t you think they know“ ist ein schwer elegantes Duett mit Thelma Houston, jener Motown-Legende, der wir den vielfach gecoverten Hit „Don’t leave me this Way“ verdanken.

Der Rest des Albums steht dem nur kaum nach. Morrissey bleibt dem Signature-Sound der großen Smiths treu, er legt hier superbe Songs vor, die sich mühelos in eine lange Reihe grandioser Werke aus seiner Ära einreihen, vom 88er-Debütalbum „Viva Hate“ zu Songs wie „Irish Blood, English Heart". Und der britische Ausnahmesänger knüpft da an, wo er auf „Low in Highschool“ und dessen famosen (und nach wie vor ungemein hörenswerten) Nummern wie „Spent the Day in Bed“ oder „I wish you lonely“ aufgehört hat, er lässt in „Once I saw the River clean“ noch einmal die blechern-dünnen Achtziger-Synthies klimpern – kurzum: Morrissey macht mal wieder alles richtig und nötigt einem – zumindest künstlerisch – allergrößte Hochachtung ab. Blitzsauber produziert von Joe Cicarelli (The Strokes, The Killers) ist dieses Album überdies, in jedem Augenblick von den großen Gesten des großen Dandys Morrissey durchwirkt, dessen Singstimme nach wie vor Maßstäbe setzt, von kessem Spielwitz angetrieben wird alles schließlich von seiner sauber agierenden Band.

Fast alles richtig gemacht

Es ist ein hundsgemeiner Schicksalswink, dass dieser so großartige Musiker immer wieder seinen wirren Geist von der Kette lassen muss. Man muss, wie eingangs erwähnt, davon absehen. Dann sieht man, dass Morrissey das bis jetzt beste und eines der gewiss dann auch in der Schlussabrechnung besten Popalben dieses Jahrgangs vorgelegt hat.

Info

Neuerscheinungen: Neben dem Morrissey-Album veröffentlichen an diesem Freitag der kanadische R’n’B-Rapper The Weeknd („After Hours“) sowie die US-Sängerin Alicia Keys („Alicia“) neue Werke.

Aktuelles: In der Vorwoche sowie den beiden vorangegangenen Wochen sind eine Reihe überaus hörenswerter neuer Alben erschienen. Dazu zählen besonders die Neuheiten von Coco Rosie, Anna Calvi, Stephen Malkmus, Caribou,King Krule, Isobel Campbell, Agnes Obel und Tame Impala sowie die neue EP von Noel Gallagher. Daneben sind neue Alben der Hamburger Punkrockveteranen Slime, des Ex-Sonic-Youth-Manns Lee Ranaldo und der kanadischen Sängerin Grimes erschienen.

Vorschau: In der kommenden Woche veröffentlicht unter anderem die legendäre US-Grungeband Pearl Jam ihr lang erwartetes neues Album.