Stadtleben beim Stuttgarter Schlossplatz Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Städte müssen einladend sein, um nicht krank zu machen. Dazu gehören die Pflege und Wertschätzung von Kultur und Natur, meint Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - „Stadtluft macht frei.“ Die Bürger des 21. Jahrhunderts können sich keine Vorstellung davon machen, was dieser Satz in früheren Zeiten bedeutet haben muss. Er stammt aus dem Mittelalter und besagte, dass Leibeigene, die sich in eine Stadt abgesetzt hatten, „nach Jahr und Tag“ nicht mehr fürchten mussten, von ihren ehemaligen Dienstherren zurückgefordert zu werden. Stadtluft, das war die beste Luft, die ein Mensch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung atmen konnte. Es war die Luft der Freiheit, auch wenn diese Freiheit eng begrenzt war.

In anderer Form gilt das noch heute. Stadtluft befreit von Zwängen. Im Unterschied zu dörflichen Strukturen entscheidet der Städter selbst, ob er sich auf Gemeinschaft einlässt. Auf dem Land ist das umgekehrt: Dort ist der einzelne Teil einer Gruppe. Die Frage, vor der er steht, lautet nicht, ob er Gemeinschaft sucht. Die Frage ist, ob er sich ihr entzieht.

Sozialer Stress durch Ausgeschlossensein

Aktuell wird über Stadtluft jedoch in ganz anderem Zusammenhang gesprochen. Nicht Freiheit ist das Thema, sondern Krankheit. Stadtluft macht krank, wenn sie zu viel Feinstaub und Stickoxide enthält. Vor allem Kinder und ältere Menschen sind betroffen. Es braucht große Anstrengungen, um zu einem verträglichen Stadtklima zu kommen.

Stadtluft kann allerdings auch auf andere Weise krank machen. Das Leben in der Stadt beeinträchtigt die Psyche – je größer die Stadt, umso mehr. Der Stressforscher Mazda Adli hat festgestellt, dass Städter empfindlicher auf Stress reagieren als Menschen vom Land. Häufig sind Depressionen die Folge. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle: Verkehr, Lärm, Schadstoffe. Belastend sei besonders der „soziale Stress“, der entsteht, wenn man sich ausgeschlossen fühlt. Da kommt die Freiheit zurück ins Spiel – und zwar ihre Schattenseite. Denn die Anonymität der Großstadt ist nicht immer freiwillig gewählt. Stadtluft kann einsam machen. Ohnehin wird Freiheit oft begleitet von Zwängen. Die Freiheit, in einer Stadt zu leben und sie zu erleben, muss man sich erst mal leisten können.

Stuttgart muss grün bleiben – egal wer im Rathaus regiert

Die Schlussfolgerungen des Stressforschers klingen einleuchtend: „Die Städte müssen dafür sorgen, dass die Menschen gerne vor die Türe treten.“ Jeder Bewohner sollte Zugang zu den angebotenen kulturellen Möglichkeiten haben. Opernhäuser und Theater hätten einen Public-Health-Auftrag. Kunst ist demnach ein Wirkstoff gegen potenziell schädliche Begleiterscheinungen von Stadtluft.

Stuttgart hat in der Hinsicht einiges zu bieten. Viele kulturelle Angebote sind niederschwellig, was aber nicht heißt, dass Menschen, die diesen Angeboten eher fernstehen, sie auch annehmen. Deshalb sollte Kultur noch stärker in den öffentlichen Raum hineinwirken, wie bei Ballett im Park oder beim Trickfilm-Festival der Fall. Das könnte dazu beitragen, dass mehr Bewohner gerne auf die Straße treten – nicht, um aneinander vorbeizugehen, sondern um sich zu begegnen.

Eine Stadt sollte einladend sein. Dem würde ein Kulturquartier in der City dienen. Ebenso wichtig ist die Pflege der Lebenskultur in den Stadtvierteln. Dazu kommt die Natur. Der alte Stuttgarter Slogan „Stadt zwischen Wald und Reben“ könnte treffender nicht sein. Er enthält eine Zustandsbeschreibung und einen Auftrag: Stuttgart muss grün bleiben, egal welche Farbe im Rathaus regiert. Mit anderen Worten: Stadtluft macht frei, wenn man sich um die Stadt kümmert.

jan.sellner@stzn.de