Sie ist das größte architektonische Bauwerk Deutschlands: die Autobahn. Michael Tewes rückt in seinen faszinierenden Fotografien ins Bild, was dem Autofahrer bei Tempo 130 verborgen bleibt.
Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn. Kraftwerk haben sie legendär besungen: die Autobahn, das graue Band der Mobilität. Verheißung des Reisens, Symbol für Schnelligkeit und Freiheit.
Aber die Autobahn fotografieren? Was für eine verrückte Idee. Der Highway ist nicht zum Ablichten gemacht. Dafür müsste man anhalten. Standort suchen, Kamera auspacken, Bildausschnitt wählen, auslösen. Aber: Schöne Ansichten, gibt die Autobahn die überhaupt her? Eher interessante. Wobei ein Stopp für ein lohnendes Motiv spontan ja gar nicht geht – bei 150 Stundenkilometern und mehr ist man in Sekundenschnelle daran vorbei. Sich von den Rändern her heranpirschen, funktioniert meist nicht in Deutschland. Lärmschutzwälle und Zäune halten die Transittrassen aus Sicherheitsgründen auf Distanz
Sportautos wie eingesperrte Tiger
Der Fotograf Michael Tewes hat sich nicht abwimmeln lassen. Er hat es gefunden, dieses bizarre, betörende wie verstörende Bild der Kühe, die unter einem Himmel aus Beton Schutz suchen, den die A 40 in den Ruhrauen am Duisburger Kreuz über ihnen aufspannt. Genauso hat er die knallfarbenen Sportwagen aufgespürt: Ein Autotransporter hält sie auf einem Rastplatz an der A 81 in Zaum, sie muten an wie eingesperrte Tiger, die sich danach sehnen, losgelassen zu werden. Oder die riesige Burger-King-Werbesäule, die mit dem himmlischen Fingerzeig des benachbarten Autobahnkirchturms konkurriert – welcher Gott hat hier die Oberhand?
Auf den Bildern herrscht Stillstand
Der mehrfach preisgekrönte Fotograf war über sechs Jahre lang immer wieder auf den bundesrepublikanischen Autobahnen unterwegs, viele Orte hat er wieder und wieder besucht, bis Licht, Stimmung und Form perfekt komponiert waren. Mehr als 800 Aufnahmen sind entstanden. Rund einhundert von ihnen präsentiert der überragende Fotobildband „Auto Land Scape“ sowie die gleichnamige Ausstellung im Verkehrszentrum des Deutschen Museums in München. Tewes zeigt, was dem gewöhnlichen Nutzer dieses Asphaltbands der Zweckmäßigkeit für gewöhnlich verborgen bleibt und ergründet so das Wesen der Autobahn. Die Automobile und ihre Insassen sind auf der Autobahn naturgemäß im Fluss – auf Tewes’ Bildern aber herrscht Stillstand. Durch das stehende Bild, sagt der Fotograf im Interview am Ende des Bandes, nehme er der Autobahn die Mobilität, werde sie zur Immobilie.
Immobilie, Ingenieurleistung, Skulptur, Symbol, Mythos – die Autobahn ist vieles. Sie ist, auch das rückt Tewes mit seinen Fotos ins Bewusstsein, auch Architektur, mit ihrer Gesamtlänge von 13200 Kilometern gar das größte zusammenhängende Bauwerk Deutschlands . Um es zu reparieren, instandzuhalten und wachsen zu lassen, werden erbarmungslose Materialschlachten geschlagen, werden Bergrücken aufgerissen, Weiden und Wälder zerteilt, Schneisen in Stadtkörper geschlagen.
Ein Ort, der ein Unort ist
Tewes’ Fotokunst ist perfekt komponiert; seine Bilder sind akkurat, nüchtern, intensiv, stimmungsstark – und immer einen Fingerzeig drüber. Eine Aura des Existenziellen umgibt die Fotos, sie zwingen den Betrachter, sich in sie und ihre Paradoxien zu versenken. Denn der Ort Autobahn selbst ist ein Unort, wie der Publizist Claudius Seidl in seiner Vorbemerkung schreibt – man will nicht bleiben, sondern schleunigst fortkommen. Die Architektur ist so hässlich wie erhaben. Tewes selbst spricht von einer „anziehenden surrealen Ästhetik, die sich mit Ohnmacht und Befremdung“ mische.
Lesen Sie aus unserem Angebot: Interview mit Stuttgarter Ingenieur: Wie muss in Zukunft gebaut werden, Herr Sobek?
Es sind Bilder, die sich mit der Betrachterin an einen Verhandlungstisch setzen, eine Diskussion eröffnen darüber, was alles in sie hinein oder aus ihnen heraus zu lesen ist. Sieht man die Schönheit der Brückenskulptur, wie sie mit paradoxer Leichtigkeit über die Wiese hinweg schwingt und eine Baumgruppe in ihre Mitte nimmt? Sieht man die unverhoffte Farbkraft und grafische Stringenz von Lärmschutzwällen inmitten der Monotonie des Grau? Sieht man die Akkuratesse eines Tisch-Bank-Ensembles auf einem Rastplatz? All die Formen, Linien, Strukturen, Geometrien?
Tristesse des Transits
Oder erkennt man nur die Tristesse des Transits? Die Absurdität der technokratisierten Funktionalität? Den Akt der Umweltvergewaltigung, den dieses gigantische Infrastrukturmonument darstellt? Der Preis, den die Natur für das große Freiheitsversprechen aus Beton bezahlt, ist hoch. Aber wer unterjocht hier eigentlich wen oder was? Auf einigen Bildern holen sich Flora und Fauna ganz nonchalant ihr Terrain zurück oder bilden eine wundersame Parallelwelt zu dem gebauten Störenfried. Versiegelte Flächen, auf denen Benzin schillert. Schmutziges Hochwasser, das ein Aquarell an Betonpfeiler malt: Tewes findet ungewöhnliche Perspektiven und nimmt ins Visier, wofür der Autofahrer keine Augen hat, weil der doch meist nur den Kilometerstand, die Distanz bis zum Zielort, die Zeit im Sinn hat.
Propaganda-Projekt der Nazis
Im Interview korrigiert der Fotograf die Erzählung, dass die Autobahn im Nationalsozialismus erfunden wurde. Tatsächlich wurde die erste deutsche Autobahn bereits 1932 eingeweiht, zwischen Köln und Bonn. Thomas Zeller trägt einen aufschlussreichen Text zum Fotoband bei, der nachzeichnet, wie die Nazis den Autobahnbau zu propagandistischen Zwecken auszuschlachten verstanden. Zudem bekommt man den landschaftsfreundlichen, nämlich Technik und Umwelt versöhnenden NS-Autobahnbau erläutert. Die Streckenführung verlief beispielsweise über Bergrücken anstatt durch Täler, um dem Autofahrer Aussichtspunkte zu verschaffen, ein bekanntes Beispiel dafür ist das 1937 fertiggestellte Aichelbergviadukt.
Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn. Es ist Urlaubszeit, schon bald gleiten wir wieder die Rampe hinauf. Dieses Mal mit Tewes’ fantastischen Bildern im Kopf.
Wo und wie der Künstler seine Arbeit präsentiert
Fotograf
Michael Tewes ist Fotograf und Künstler. Er studierte in Dortmund, Potsdam und Chicago. Neben künstlerischen Projekten arbeitet er als Fotograf für namhafte Marken. Für seine Arbeiten gewann Tewes unter anderem den Körber Fotopreis und den IF Design Award.
Buch
Michael Tewes: Auto Land Scape. Hrsg. Nadine Barth. Verlag Hatje Cantz, Berlin. 180 Seiten,48 Euro.
Ausstellung
Im Verkehrszentrum des Deutschen Museums in München ist die Schau „Auto Land Scape“ noch bis 31. Oktober zu sehen. Am Bavariapark 5, geöffnet täglich 9 bis 17 Uhr.
Newsletter
Sie wollen auf dem Laufenden bleiben, was vor Ihrer Haustür und in der Welt passiert? Mit den kostenlosen E-Mail Newslettern der Stuttgarter Zeitung auch zum Thema Architektur und Wohnen unter StZ Bauwelten erhalten Sie hier die wichtigsten Nachrichten und spannendsten Geschichten direkt in Ihren Posteingang.