Szene aus „Das Fest“. Foto: Ostkreuz

Christopher Rüping erzählt im Schauspielhaus Stuttgart „Das Fest“ aus der Perspektive der Kinder. Der junge Regisseur vergibt mit dieser Psycho-Konfettiparty aber die gesellschaftskritische Härte des Themas.

Christopher Rüping erzählt im Schauspielhaus Stuttgart „Das Fest“ aus der Perspektive der Kinder. Der junge Regisseur vergibt mit dieser Psycho-Konfettiparty aber die gesellschaftskritische Härte des Themas.

Stuttgart - Helene ist überglücklich, endlich sieht sie ihren Bruder Christian wieder. Sie strahlt und, schwups, schlüpft sie unter seinen übergroßen Strickpullover, um sich an ihn zu kuscheln. Michael, der Jüngste in der dänischen Familie Klingenfeldt-Hansen, quetscht sich auch noch dazu. Und so stehen sie da, die Schauspieler Paul Grill, Maja Beckmann und Pascal Houdus, als dreiköpfiges Wesen, das einander herzt und sich balgend mit den Händen an den Gesichtern herumdrückt.

Ein schönes Bild am Sonntagabend im Schauspielhaus Stuttgart für eine Geschwisterbeziehung, in der Kinder auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet sind und sich nur zu dritt gegen die Übermacht der Eltern wehren können. Es ist auch ein starkes Bild für den Verlauf des Abends, wenngleich es lange dauern wird, bis Helene und Michael nicht nur mit dem Herzen ihrem Bruder nahe sind, sondern ihn auch in Worten und Taten unterstützen werden.

Sie kommen zusammen, um mit der Familie und Freunden den 60. Geburtstag ihres Vaters zu feiern. Für Christian ist es aber auch der Tag der Abrechnung. In Thomas Vinterbergs Film von 1998 hält der Sohn Christian eine Rede, in der er den Vater des Missbrauchs an ihm und seiner Schwester Linda anklagt, die sich vor kurzem das Leben genommen hat. Noch heftiger als diese überraschende Offenbarung ist die Reaktion der (Feier-)Gesellschaft: Sie ignoriert den Skandal und feiert einfach weiter.

Skandal wird aus Kindersicht erzählt

In dem Film, immer noch so aktuell wie bei seinem Erscheinen, sieht man, wie die Erwachsenengesellschaft darüber verhandelt (und zu ignorieren versucht), was vor über 20 Jahren geschehen ist. Der junge Regisseur Christopher Rüping, Jahrgang 1985, hingegen wählt ein anderes Konzept: Er blendet die Gesellschaft aus und setzt auf einen Perspektivwechsel. Alles wird aus der Kinderperspektive erzählt, womöglich inspiriert durch die Märchenstruktur des Films.

Christian muss die Gesellschaft dreimal damit konfrontieren, dass der Vater ihn und die Schwester Linda regelmäßig vergewaltigt hat – mit dem Wissen der Mutter, die nichts dagegen unternahm. Erst dann trägt Helene Lindas Brief vor, erst dann glaubt auch Michael dem Bruder.

Alle tragen also in dieser Inszenierung schlumpfartige Ganzkörperanzüge und übergroße Pullover (Kostüme: Lene Schwind), auch der Opa, die Oma, die Eltern. Wer gerade welche Figur spielt, wird an dem Namens-Anfangsbuchstaben auf den Pullovern deutlich, die häufig getauscht werden. Feste Rollenzuschreibungen gibt es nicht: Jeder Mensch kann Opfer und eben auch Täter sein.

Überdies unternimmt Rüping damit einen von mehreren Versuchen, nicht einfach nur den Film zu kopieren, sondern möglichst viele theatralische Mittel zu zeigen, die Notwendigkeit einer Dramatisierung will offenbar beglaubigt werden.

Mobiliar und Wiesenblumen für die Zerstörungswut

Pah, wir spielen nicht nach – mit dieser Trotzgeste beginnt der Abend auf einer leeren dunklen Bühne (Jonathan Mertz), auf der im Hintergrund jede Menge Mobiliar und herrliche Wiesenblumen auf ihren Einsatz zum Reinen-Tisch-machen und zur Zertrümmerung warten. „Hallo, schön, dass ihr da seid“, so kumpelig begrüßt Paul Grill das Publikum.

Wie im Film werden zwei Umschläge mit Reden hochgehalten, einer gelb und einer grün. Während der Vater bei Vinterberg grün verlangt, bestehen die Schauspieler darauf, die gelbe Rede vorzutragen, obwohl auch das zum Mittun aufgeforderte Publikum ebenfalls die grüne Variante gewählt hatte.

Wie in einer lustigen Kinderwissens-Sendung spielen die allesamt fabelhaften Schauspieler jetzt die Familiengeschichte der Klingenfeldt-Hansens – vom dänischen Ötzi (Pascal Houdus in Leopardenunterhose, wild augenrollend) bis zum tapferen Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Köper-Gruppenbilder entstehen, die auch Erwachsene zum Lachen bringen.

Dann aber: Schluss mit lustig. Paul Grill erzählt den Anfang des Films (immer wieder werden die Schauspieler Szenen referieren oder kommentieren), um ins Spiel zu kommen und, abgelöst von Christian Schneeweiß, wirklich die grüne Rede, die „Wahrheitsrede“ zu halten.

Alle können jeder sein, Svenja Liesau etwa spielt sowohl Christian wie auch Linda und die Mutter. Alle sind viel zu klein für diesen übergroßen Stoff, alle können, müssen die viel zu großen Strickpullis tragen. Eine gute Idee, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, um die es geht, dafür auch immer wieder kindliche Szenen zu kreieren, Konfettiregen, wildes Tischerücken, Wasserschlachten inklusive.

Psycho-Geburtstag - anrührend, aber ohne Sprengkraft

Inklusive dann aber auch so verbrauchte Mittel wie gleichzeitiges brüllendes Witzeerzählen, um die Stimme der Wahrheit zu übertönen. Oder diverse Wiederholungsstrukturen, wobei ein Bild nicht unbedingt eindrücklicher wird, wenn der Vaterkopf zigmal statt einmal auf eine Tischplatte geschlagen wird.

Um das Böse endlich auszusprechen, begibt man sich in die Situation des Kindes. So einleuchtend dieser therapeutische Ansatz sein mag, so sehr verfehlt es doch den zweiten Skandal, die Ignoranz der Menschen. Da die Feiergesellschaft im Theater ohne Gäste auskommt – abgesehen von den vor allem von Matti Krause und Christian Schneeweiß ulkig debil gespielten Opas und Omas. So fehlt eben auch die Nicht-Reaktion, mehr noch, die Verleugnung dieser Missbrauchswahrheit durch die Gesellschaft.

Denn anders als das Publikum im Film, das angeschickert auch in rassistische Lieder einstimmt, bleibt das Publikum im Theater natürlich stumm, wenn Maja Beckmann in komischer Verzweiflung nach Musik (grandios stoischer Pianist: Norbert Waidosch) verlangt und zum Mittun auffordert. So einfallsreich und bildstark, so anrührend dieser gespenstische Psycho-Kindergeburtstagsabend oft ist, so nimmt er dem Sujet doch seine über die Familie hinausweisende gesellschaftliche Sprengkraft und Radikalität.

Weitere Aufführungen: 28. April, 10., 13., 16., 28. Mai, 4., 15., 28. Juni. Kartentelefon:

07 11 / 20 20 90.