Das Warten zwischen Reisenden hält manch amüsante Beobachtung bereit, wie unsere Kolumnistin Anna Katharina Hahn beschriebt.
Die Stadt ist leerer geworden, im Viertel gibt es Parklücken von LKW-Länge, in vielen Lokale hängen Schilder an verschlossenen Türen: „Wir machen Pause“, „Sommerruhe“. Rollläden verdecken ganzen Fensterreihen, Vogel- und Kinderstimmen sind verstummt. Wer jetzt noch mit Bus oder Bahn unterwegs ist, bekommt sicher einen Sitzplatz. Nur die Warterei nervt. Meine Gedanken schweifen, als ich im Ölgeruch der kühlen Unterführung auf einer Bank sitze und auf das Gewirr des Streckenplans starre. Meine Lieblingsbeschäftigung - Leute beobachten - fällt flach, denn die beiden nervösen jungen Frauen, die mit mehreren Kindern und einem beängstigenden Gepäckhaufen neben mir warten, habe ich bereits so ausführlich angestarrt, dass weitere Betrachtungen unverschämt wären. Lesen geht auch nicht. Meine aktuelle Lektüre, der neue Roman von Karl-Heinz Ott, „Die Heilung von Luzon“, liegt zu Hause auf dem Küchentisch. In ihm suchen zwei Paare ihre letzte Chance im Kampf gegen den Krebs bei einem dubiosen Heiler auf den Philippinen. Ein wilder Ritt, wahnsinnig gut geschrieben. Automatisch wandern meine Finger zum Außenfach der Handtasche, dort steckt das Telefon. Im gleichen Augenblick zucke ich zusammen. Woher kam der Knall? Einer der beiden mächtigen Hartschalenkoffer ist umgekippt. Das schuldige Mädchen, sie ist höchstens vier, scharrt mit dem Fuß, legt den Kopf schief, während eine Schimpflawine auf sie niedergeht. Dabei haben die beiden anderen Kids hinter den Rücken der Erwachsenen schon wieder angefangen, die rollenden Kolosse zu erklettern, sich rittlings darauf zu setzen und mit beiden Händen die ausgezogenen Tragegriffe zu umklammern. Die unförmigen Pferde, eines leuchtet blau, das andere rosa, tragen ihre ungestümen Reiter ausgezeichnet - sie sacken nicht in der Mitte ein oder fallen sofort zur Seite, wie das Reisekoffer meiner Kindheit bei solchen Versuchen taten. Durch die vier stabilen Rollen an der Unterseite können sich die Riesen auch schwer bepackt um die eigene Achse drehen. Außerdem erweist sich der Fliesenboden der unterirdischen Haltestelle als ungemein fahrtauglich.
Kein Ritt auf alten Koffern
Zwischen gepeinigten Müttern und dem Liniennetz
Die Bande kreiselt vorbei und quietscht, die gepeinigten Mütter springen auf und stürzen den davongleitenden Kindern nach. Ich verberge mein Grinsen so gut es geht und erinnere mich an verschiedene Aufenthalte an Gepäckbändern, auf Bahnsteigen, bei denen zwei kleine Jungs die Segnungen dieser Rollkoffer weidlich ausreizten und meine Stimme vom Zetern heiser war. Statt auf das Handy starre ich auf das Wort „Liniennetz“ an der Wand gegenüber und zerlege es: Linie, Netz, Leine, Ei, nein, in, eine, Tee, Tenne, Litze, Zinie, Zeiten, nie. Leicht ließe sich eine kurze Quatschgeschichte daraus machen, vielleicht sogar noch ein Gedicht. Mit einem rasenden Koffer könnten beide nicht konkurrieren.